Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Er war nett zu mir, und das macht mir Angst. Er hat mich nicht angeschrien, was normal gewesen wäre, sondern war höflich. Ein Tonfall, als ob er mich siezen würde.
Er hat mich nicht gesiezt, das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, aber er hat meinen Namen gewusst. «Du, Gerron», hat er zu mir gesagt und nicht «Du, Jud».
Es ist gefährlich, wenn ein Mann wie Rahm deinen Namen kennt.
«Du, Gerron», hat er gesagt, «ich habe einen Auftrag für dich. Du wirst einen Film für mich drehen.»
Einen Film.
Er will etwas Privates, habe ich zuerst gedacht, einen Film über sich selber. Der liebende Vater Karl Rahm mit seinen drei Kindern. Der Herr Obersturmführer als Mensch verkleidet. Etwas in der Art. Was er an seine Familie in Klosterneuburg schicken kann.
Ja, wir wissen, wie viele Kinder er hat. Wir wissen, wo er herkommt. Wir wissen alles über ihn. So wie arme Sünder alles über Gott wissen. Oder über den Teufel.
Die Ufa, das hat mir Otto erzählt, dreht jedes Jahr einen Film zum Lob von Joseph Goebbels. Immer zu seinem Geburtstag. Sie schicken ihm einen ihrer Stars, den Rühmann zum Beispiel, der macht was Niedliches mit den Goebbelsschen Kindern, und damit schleimen sie sich beim Herrn Propagandaminister ein.
So etwas, habe ich mir vorgestellt, will jetzt auch der Rahm. Das wäre kein Problem gewesen. Nicht in meiner Lage.
Aber Rahm denkt größer. Der Herr Obersturmführer hat andere Pläne.
«Hör zu, Gerron», hat er gesagt. «Ich hab mal einen Film von dir gesehen. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß, aber er hat mir gefallen. Du kannst was. Das ist das Schöne an Theresienstadt: Hier sind eine Menge Leute, die was können. Ihr spielt ja auch Theater und so. Und jetzt will ich eben einen Film.»
Dann hat er mir erzählt, was für ein Film es werden soll.
Ich bin erschrocken. Man muss es mir angemerkt haben, aber er hat nicht darauf reagiert. Weil er mein Erschrecken erwartet hat. Oder weil es ihm egal war. Ich kann solche Gesichter nicht lesen.
«Wir haben schon früher mal einen Versuch in der Richtung gemacht», sagte er, «aber der ist nicht gelungen. Ich war sehr unzufrieden. Die Leute, die das versaut haben, sind nicht mehr hier.»
Es fährt immer ein nächster Zug nach Auschwitz.
«Jetzt bist du dran», sagte Rahm. Immer noch freundlich. Seine Stimme immer noch freundlich. «Wenn wir beide Glück haben, kommt dieses Mal etwas Gutes dabei raus. Nicht wahr, Gerron?»
«Ich muss mir das überlegen», habe ich gesagt. Zu Rahm. Eppstein, der als Judenältester auch geladen war, atmete ein erschrockenes Stöhnen in sich hinein. Ein Jude hat nicht zu widersprechen. Nicht wenn der Lagerkommandant etwas verlangt. Der SS-Mann, der mich hergebracht hatte, machte sich schon zum Prügeln bereit. Ich habe seine Hand nicht gesehen, nur die Bewegung gespürt. Man dreht sich aus der Achtungsstellung nicht weg. Nicht im Büro des Lagerkommandanten. Der Schlag war schon unterwegs, aber Rahm winkte ab.
«Er ist ein Künstler», sagte er. Machte immer noch sein freundliches Onkel-Rahm - Gesicht. «Er braucht Inspiration. Das ist in Ordnung, Gerron», sagte er. «Ich gebe dir drei Tage. Zum Nachdenken. Damit der Film auch ein Erfolg wird. Nicht dass ich noch einmal mit jemandem unzufrieden sein muss. Drei Tage, Gerron.»
Meine Prügel habe ich dann doch noch bekommen. Vor der Tür von Rahms Büro. Der SS-Mann schlug mich ins Gesicht, wie sie es meistens tun. Aber nicht mit voller Kraft. Ich werde noch gebraucht.
Wenn man schon wüsste, wie es aufhört, würde man anfangen wollen? Würde man sich nicht die Nabelschnur um den Hals winden, um erwürgt zu sein, noch bevor man an die Luft kommt? Würde man nicht Mittel finden, um gar nicht erst an den Start zu gehen bei einem Rennen, das man schon verloren hat?
Man hat mir von einem Kind erzählt, das, noch vor meiner Zeit, im Zug von Amsterdam nach Westerbork zur Welt kam, und für das Gemmeker die besten Kinderärzte aus der Stadt kommen ließ. Eine Säuglingsschwester, die schon mal einer leibhaftigen Kronprinzessin die Windeln gewechselt hatte. Die Mutter allerdings ging noch am Tag ihrer Ankunft nach Osten. Sie hatte mit der unbotmäßigen Geburt die Zahlen auf den Transportpapieren durcheinandergebracht und durfte zum Ausgleich eine andere Liste vervollständigen.
In Westerbork herrscht ein anderer Wahnsinn als hier in Theresienstadt. Aber auch er hat Methode. Um als voll zählende Menscheneinheit nach Auschwitz geschickt zu werden, muss man
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