Gut und richtig leben mit dem inneren Schweinehund
Leserfragen:
Ein Au-pair-Mädchen wurde beim Diebstahl im Kaufhaus erwischt und zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Sie muss nach der Haft sofort das Land verlassen und bittet ihre Gastfamilie deshalb, ihre Sachen aufzubewahren und später einem Bekannten zu geben, der sie abholen wird. Die Familie hat die Arbeit des Mädchens sehr geschätzt, die Kinder haben sie geliebt. Im Zimmer des Mädchens findet die Familie allerdings weiteres Diebesgut im Wert von mehreren Tausend Euro. Nun stellt sich die Frage: Soll das Diebesgut dem Bekannten des Mädchens übergeben werden? Oder der Polizei? Oder einem karitativen Zweck?
Erlinger antwortet vor allem als Jurist: Das Diebesgut muss zur Polizei gebracht werden, nicht zuletzt deshalb, weil die Familie sonst mit in die Sache hineingezogen würde und sich selbst strafbar |74| macht. Aus dieser Perspektive ein völlig klarer Fall. Doch die Familie hat ein ungutes Gefühl dabei: Sie hat das Mädchen gemocht und will ihm nicht noch mehr Ärger einhandeln, als es ohnehin schon hat. Soll man sie nun behandeln wie jede »gewöhnliche« Diebin oder aufgrund der persönlichen Verbindung doch ein Auge zudrücken? Ein Dilemma. Was ist gerecht? Ist es richtig, sich nach dem Recht zu richten?
»Der billig Handelnde ist derjenige, der unabhängig vom geschriebenen Gesetz gerecht ist«, sagt Aristoteles. Es ist der, für den im Zweifelsfall die Egalität mehr zählt als die Legalität, die Gleichheit mehr als die Rechtmäßigkeit. Gleichmacherei ist damit allerdings nicht gemeint. Vielmehr geht es um die Gleichheit von Individuen, von denen jedes zugleich individuell verschieden ist. Das klingt sehr abstrakt. Schauen wir uns deshalb an, was dies im Alltag konkret bedeutet.
Gerechtes Teilen
Besonders für Kinder ist es wichtig, dass alle »das Gleiche« bekommen: für jeden die gleiche Anzahl Süßigkeiten, für jeden eine blaue Sandschaufel. Werden Unterschiede gemacht, quittieren sie dies manchmal mit regelrechten Zornesausbrüchen. Es ist schwer für sie zu verstehen, dass es gerecht sein kann, wenn der große Bruder eine größere Portion Bratwurst mit Pommes frites bekommt als sie selbst. Solche Situationen können strapaziös sein. Zur moralischen Herausforderung für Ihren Schweinehund werden sie vor allem, wenn Sie selbst auch in der Reihe derjenigen stehen, denen Sie etwas zuteilen. »Jedem sein Teil, nicht zu viel und nicht zu wenig, und mir selbst, als wäre ich irgendwer «, sagt Aristoteles. »Ich bin aber nicht irgendwer!«, beschwert sich Ihr Schweinehund. »Ich will die heißesten und meisten Pommes frites und eine Extrawurst. Die Kinder merken das doch gar nicht.«
|75| Faire Verträge
Ein Vertrag – sei es ein Kaufvertrag, ein Mietvertrag oder ein Arbeitsvertrag – ist nur dann gerecht, wenn die Vertragspartner tatsächlich Partner sind. Das heißt, wenn Leistung und Gegenleistung in Balance sind. In diesem Sinne nicht gerecht ist es, einen unerfahrenen Menschen »übers Ohr zu hauen«, indem man ihm eine Sache zu einem überteuerten Preis verkauft, eine unbewohnbare Wohnung vermietet oder zu einem unangemessen kleinen Lohn anstellt. Ungerecht ist es auch, wenn ein Vertragspartner zum Beispiel zu günstigen Bedingungen vom Vertrag zurücktreten kann, der andere aber nicht.
Der Schweinehund zieht andere gerne über den Tisch. Er liebt das Gefühl, mit einer dicken Tasche Geld oder mit einem echten Schnäppchen aus einer Verhandlung zu gehen. Ob seine Verhandlungsstrategie den Maßstäben der großen Kardinaltugend Gerechtigkeit genügt, ist ihm gleichgültig. Übrigens: Wenn Sie sich nicht sicher sind, ob Sie in einer Verhandlung vom Pfad der Tugend abkommen oder nicht, versetzen Sie sich doch einfach in die Rolle Ihres Gegenübers: Würden Sie den Vertrag abschließen, wenn Sie an seiner Stelle säßen?
Beim Abschluss von Verträgen hat Gerechtigkeit auch viel mit Ehrlichkeit zu tun, vor allem, wenn diese auf Grundlage unehrlicher Angaben zustande kommen: Der Bewerber hat gar kein echtes Diplom, der Keller des Hauses ist – anders als im Gutachten angegeben – nicht trocken, der Wagen ist entgegen den Angaben des Verkäufers nicht unfallfrei. Gerechtigkeit hat auch mit maßhalten zu tun: Schließlich geht es darum, Anteile (auch die eigenen) richtig zu bemessen. Ehrlichkeit und Maß gehören nicht zu den Tugenden, die den Schweinehund auszeichnen. (Wie gesagt: Er will den schnellen Lustgewinn, egal wie.) Und mehr noch bereitet ihm
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