Gut und richtig leben mit dem inneren Schweinehund
Auto auf dem Weg zur Arbeit nicht zu schnell zu rasen, aber auch nicht zu bummeln; im Büro freundlich zu sein, aber auch bestimmt; produktiv zu sein, aber sich nicht mit Arbeit zuschütten zu lassen. Beim Mittagessen nicht über die Stränge zu schlagen, aber auch nicht aus Übereifer zu fasten. Sich nachmittags nicht der Müdigkeit hinzugeben, aber auch nicht sinnlos zu rotieren. Und sich am Feierabend weder vorm Fernseher noch an der Theke oder sonst wo zu vergessen.
Wie gesagt: Es geht nicht darum, die Genüsse einzuschränken, sondern darum, die Genussfähigkeit zu steigern. Nicht weniger, |71| sondern bewusster genießen. Selbstbestimmt genießen, sich von den Genüssen (oder besser gesagt: vom inneren Schweinehund) nicht versklaven lassen, nicht süchtig danach werden. Sich über ein Glas Wein, ein gutes Essen und eine wunderbare Musik freuen, aber auch ohne weiteres darauf verzichten können.
Der Schweinehund kann das meist nicht und er will es eigentlich auch nicht. Er ist von Natur aus prinzipiell maßlos und hat vor allem mit den folgenden Anforderungen des Alltags seine Schwierigkeiten:
1. Aufhören. Der Schweinehund hindert Sie daran, den Fernsehapparat auszuschalten (»Nur noch diese Sendung fertig schauen!«). Er hält Sie davon ab, die halbvolle Tüte Chips wegzustellen (»Nur noch eins!«). Und vielleicht ermutigt er Sie auch, Ihre heimliche Affäre weiterhin zu treffen, obwohl Sie schon in den größten Schwierigkeiten stecken (»Nur noch dieses eine Mal!«). Wie untergräbt der Schweinehund Ihren Willen? Zum Beispiel mit dem Hinweis auf Ihre dringenden geistigen oder körperlichen Bedürfnisse. Doch der Körper braucht gar nicht so viel. Die ständige Gier nach mehr ist ein Produkt der Fantasie.
Dabei kann Ihnen die Fantasie auch helfen, mit weniger Genussmitteln auszukommen, indem sie Erinnerungen an vergangene Genüsse wachruft oder die Vorstellung kommender Genüsse (Vorfreude) ermöglicht.
2. Warten. Kaum etwas findet der Schweinehund schlimmer als das Warten. Es bedeutet ja, dass seine Gelüste nicht sofort befriedigt werden! So drängt er seinen Menschen möglicherweise dazu, vor der vereinbarten Zeit von der Torte zu naschen und die besondere Flasche Sekt im November statt an Silvester zu öffnen.
3. Unterscheiden. Dem Schweinehund ist es nicht so wichtig, ob etwas wirklich gut ist oder nicht. Er will vor allem viel: viel Essen, viel Trinken, viel Sex, viel Urlaub, viel Fernsehen. Es ist ihm einfach zu mühsam, auf die Qualität zu achten. Lieber nimmt er die eine |72| oder andere Enttäuschung in Kauf, erträgt einen verstimmten Magen oder einen verkaterten Kopf, als zuerst ruhig und überlegt auszusuchen, und dann zu genießen.
Fragen an Sie und Ihren Schweinehund:
In welchen Lebensbereichen lässt Sie Ihr Schweinehund am liebsten über die Stränge schlagen? Warum macht ihm das wohl solchen Spaß?
In welchen Situationen gelingt es Ihnen beiden dagegen gut, das richtige Maß zu finden, und woran könnte das liegen?
Was könnten Sie konkret tun, damit es Ihnen in Zukunft häufiger gelingt, maßzuhalten?
Gerechtigkeit
Die größte Frucht der Gerechtigkeit
ist der Seelenfriede.
Epikur
Die Gerechtigkeit ist wie ein Sockel, auf dem alle anderen Tugenden aufbauen. Ohne Gerechtigkeit können sich Klugheit, Mäßigung |73| und Tapferkeit auch in den Dienst einer schlechten Sache stellen. So kann ein Schurke durchaus gerissen, kühn und beherrscht sein – wenn er aber auch rechtschaffen ist, dann ist er kein Schurke mehr.
Wenn Sie gerecht sein wollen, heißt das nicht, dass Sie es allen recht machen müssen. Wenn Sie das versuchen, werden Sie ohnehin nur zum Spielball der individuellen Interessen anderer Menschen – beziehungsweise ihrer Schweinehunde. Es heißt vielmehr, dass Sie möglichst jedem gerecht werden .
Dies können Sie beispielsweise tun, indem Sie für jeden die gleichen Gesetze gelten lassen und kühl anwenden. Aber was, wenn die Gesetze, denen Sie folgen, der Lage eben nicht gerecht werden? Die Gesellschaft braucht Gesetze, aber auf der zwischenmenschlichen Ebene wirkt die unreflektierte, buchstabengetreue Anwendung von Gesetzen oft unangemessen und ist wenig geeignet, um der Komplexität der konkreten Lage gerecht zu werden. Das ist ein Grund für den großen Erfolg der Kolumne »Gewissensfragen«, die Rainer Erlinger, promovierter Jurist und Mediziner, seit Jahren im Magazin der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht. Hier, verkürzt, eine der
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