Gute Leute: Roman (German Edition)
Georg Weller – alle hatten doch immer gewollt, dass er einmal Urlaub nähme.
Mitunter hätte er gern gewusst, ob er verfolgt wurde, ob das Auswärtige Amt nach ihm suchen ließ. Seine Entlassung hatte er vorsätzlich herbeigeführt. In der ersten Juniwoche hatte ihn Frenzel in sein Büro bestellt und ihm in förmlichem Ton mitgeteilt, die Saumseligkeit bei der Vorlage des Modells des weißrussischen Menschen sorge im Auswärtigen Amt für großen Unmut.
Thomas hatte erwidert, dass er das Modell wegen seiner Aufgaben im Zusammenhang mit der deutsch-sowjetischen Parade nicht habe vollenden können.
Frenzel unterbrach ihn und sagte kühl, soviel er wisse, habe sich schon seit zwei Monaten niemand mehr wegen der verfluchten Parade an ihn gewandt. Der Schrottplatz der Bürokratien sei randvoll mit Initiativen, die irgendwann verpufft seien, und seine Parade sei eine davon. Nur Thomas lasse nicht davon ab, alle Welt damit zu behelligen, verschicke Schreiben an Regierungsstellen, fahre nach Warschau und Krakau zu nebulösen Treffen, vertraue Personen Informationen an, die streng geheim gehalten gehörten, und wecke Wut und Empörung bis in die höchsten Kreise. »Das Fest ist aus«, kollerte Frenzel scharf, doch die Härte in seiner Stimme klang bemüht, wie von oben verordnet. »Immerhin hat man sich bereits Anfang Mai an Sie gewandt mit der Aufforderung, Ihre Arbeit am Modell des weißrussischen Menschen abzuschließen.«
»Bedeutet das, dass ein Krieg mit der Sowjetunion ansteht?«
»Nein«, gab Frenzel ungehalten zurück. »Der weißrussische Mensch beschäftigt uns aus philosophischen Gründen. Stellen Sie mir bitte keine Fragen, auf die eine Antwort zu geben ich nicht befugt bin. Soweit ich verstanden habe, klagt man im Auswärtigen Amt über Ihre Schlamperei, ja es wird sogar behauptet, Sie seien ein Betrüger. Immerhin beziehen Sie Ihr Gehalt, um eine bestimmte Arbeit zu leisten.«
»Ich war auch beauftragt, an der deutsch-sowjetischen Parade zu arbeiten.«
»Und wenn schon, dann müssen Sie eben zwei Projekte gleichzeitig erledigen. Und bei allem Respekt, ein Treffen in Brest, hin und wieder ein Briefwechsel, das entspricht nicht unbedingt den Arbeitsanforderungen einer Vollzeitstelle.«
»Es gibt kein Modell des weißrussischen Menschen«, sagte Thomas.
»Sie verstehen die Bedeutung dessen, was Sie da sagen?«, fragte Frenzel sanft und beugte sich zu Thomas vor. »Schauen Sie, auch wenn Sie nur Rohmaterial in der Hand haben, können Sie doch innerhalb einer Woche einen exzellenten Bericht anfertigen. Vielleicht wird er nicht so großes Aufsehen erregen wie das ›Modell des nationalen polnischen Menschen‹, aber das werden Sie mit Leichtigkeit begründen.«
»Sie können dem Auswärtigen Amt mitteilen, dass ich die Arbeit nicht vollendet habe.«
»Vielleicht gehen Sie einfach nach Hause und denken über Ihre Antwort noch einmal nach?«, schlug Frenzel vor und ordnete die Papiere auf seinem Schreibtisch, als wollte er andeuten, dass das Treffen beendet sei.
»Ich habe mehr als genug darüber nachgedacht.«
»Mithin ist das Ihre endgültige Antwort?«, fragte Frenzel und erhob sich.
»Endgültig und unwiderruflich.«
Innerhalb einer Woche war er entlassen und erhielt ein Schreiben, in dem ihm mitgeteilt wurde, er habe sich aus Lublin unverzüglich zu entfernen. Das Auswärtige Amt behalte sich vor, ihn wegen Betrugs zu verklagen. Es sei ihm freigestellt, eine detaillierte Antwort einzureichen, in der er sein Verhalten begründen könne. Auf das Schreiben hatte er nicht reagiert und sich mitten in der Nacht aus Lublin abgesetzt.
Das letzte, was er in Lublin tat, war einen Brief an Victoria Sowlowa abzuschicken, wohnhaft in Brest, in dem die Absenderin, Eva Potschinska, schrieb, es tue ihr leid, Victoria vom Tod ihrer geliebten Tante in Kenntnis setzen zu müssen, die Beerdigung habe bereits stattgefunden. Allen habe es das Herz gebrochen. Sie bestürme ihre teure Freundin, Brest umgehend zu verlassen und sofort nach Hause zurückzukehren, um den verwitweten Onkel zu trösten, denn bliebe dieser auch nur eine weitere Woche allein, drohe er vor Kummer zu sterben.
Bei seiner Rückkehr nach Berlin veräußerte er sogleich die Wohnung seiner Mutter. Am Morgen des 22. Juni, an dem der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion bekannt wurde, unterzeichnete er den Vertrag. Seine Kleidungsstücke packte er in zwei Koffer und spendete die gesamte Einrichtung der NSV.
Klarissa bekam er nicht
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