Gute Leute: Roman (German Edition)
streckte sich auf dem warmen Kies neben den Schienen aus und legte seine Wange an einen Stein, der glatt war wie ein Kissenbezug. Er war sich sicher, dass er nicht durch eine triviale Fliegerbombe sterben würde. Als der Alarm vorüber war, stieg er nicht wieder in den Zug, empfand kein Bedürfnis, sich die verschreckten Äußerungen der Fahrgäste anzuhören. Er nahm seinen Koffer und wanderte einige Kilometer durch die Felder, bis er ein kleines Dorf in der Nähe von Hannover erreichte und entschied, sich dort niederzulassen.
Frau Gruber, deren Haus direkt neben dem Friedhof lag, war der erste Mensch, dem er begegnete. Sie bot sogleich an, ihm das Obergeschoss ihres Hauses zu vermieten und ihm seine Mahlzeiten zuzubereiten. Die einzige Gegenleistung, die sie dafür verlangte – neben einer entsprechenden Bezahlung selbstverständlich –, war seine geschätzte Meinung über den weiteren Kriegsverlauf, er verstehe gewiss mehr davon als die beschränkten Bauern hier. Ihre Enkel Hans und Franz seien an der Ostfront, und ihre Tochter und sie fänden vor lauter Sorge nachts keinen Schlaf mehr.
»Sie können beruhigt schlafen, Frau Gruber, ich versichere Ihnen, dass Hans und Franz bis zum Ende des Jahres zurückkehren werden.«
Für einige Tage war Frau Gruber beruhigt und behandelte ihn mit übertriebenem Respekt. Um halb sieben am Morgen bereitete sie ihnen beiden ein üppiges Frühstück. Danach machte sie sich an die Arbeit und pflegte den Friedhof mit der Hingabe einer Bäuerin, die ihr Land bestellt. Jeden Tag bat sie Thomas, ihr ein »wenig zur Hand zu gehen« – ein bisschen Bewegung habe noch niemandem geschadet, und er sehe wirklich sehr mitgenommen aus. Hier seien die Handschuhe zum Unkrautjäten, auch wäre es sehr nett, wenn er die Farbe für den Holzzaun anrühren könnte, hier schaffen wir den Unrat weg und ebnen den Boden, ja, sie träumte von einem mit Kieselsteinen befestigten Weg, wobei sie erzählte, es gebe im Dorf Geizhälse, die sich weigerten, für eine Instandsetzung des Friedhofs zu bezahlen.
In den Nachmittagsstunden pflegte Thomas in seinem Zimmer zu sitzen, und Frau Gruber, gewaschen und parfümiert, im weißen Haar ein blaues Band, servierte ihm Eierlikör und nutzte die Gelegenheit, ihm unliebsame Fragen zu stellen. Warum er nicht verheiratet sei? Ob die Frau seines Herzens einen anderen genommen habe? Das passiere selbst den Besten. Auch sie habe unter allen ihren Verehrern ausgerechnet den größten Versager gewählt.
Nachts überquerte Thomas den Friedhof und verschwand unter einem sternenübersäten Himmel auf den Feldern, die das Dorf umgaben, drang immer weiter in die Dunkelheit vor und spürte, wie er sich gemeinsam mit der Welt in Nichts auflöste, zu einem Körper und einem Haufen dürftiger Erinnerungen wurde.
Eines Tages bemerkte der Wirt der Dorfschenke, seine Augen seien gerötet, offenbar habe er nicht gut geschlafen, kein Wunder, wenn er im Haus dieser Gruber wohne, eine schreckliche Frau, die mit teuflischem Lächeln im Dorf herumlaufe, als wollte sie sagen: Hier kommt Ihr Tod. Als Thomas in seine Bleibe zurückkehrte, ließ er Frau Gruber gegenüber eine pessimistische Bemerkung zur Zukunft des Krieges fallen.
Die ganze Nacht über hörte er von unten ihr Schnaufen wie von einem müden Stier. Schließlich klapperten ihre Schuhe die Treppe hinauf, und schon klopfte sie an seine Tür, schwenkte eine rußende Kerze und beklagte sich, er habe ihr versichert, dass ihre Enkel wohlbehalten zurückkommen würden. Das genau habe man ihr auch 1914 gesagt, und zwei Jahre später sei ihr Mann gefallen.
»Ich habe nicht gesagt, dass sie lebend zurückkehren werden, Frau Gruber, ich sagte lediglich, sie kämen zurück.«
Er packte unverzüglich seine Sachen und machte sich davon. Wohin zog es ihn? Nach Heidelberg? Vielleicht würde er dort in der Universitätsbibliothek sitzen und ein wenig lesen, sich einem bestimmten Thema widmen? Eine Woche zuvor hatte er noch vorgehabt, zur belgischen Grenze zu gelangen. Auf dem Bahnhof lief er von einem Gleis zum nächsten – erst lenkte er seine Schritte, wie immer, zu dem Gleis, auf dem der Zug nach Berlin fuhr, doch dann fielen ihm all jene Landstriche ein, fernab der gleißenden Städte, für die er immer nur Verachtung empfunden hatte. Dort würde er heimisch werden. Vielleicht lernst du ja noch, dich auch an den kleinen Dingen des Lebens zu erfreuen, verspottete er sich zuweilen. Carlson Mailer, Schumacher, Frau Günter und
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