Gute Leute: Roman (German Edition)
bei«, meinte der Deutsche, »der Mensch hat schon keine Geheimnisse mehr.«
»Ich muss Sie jetzt verlassen«, sagte Nikita Michailowitsch mit einem Mal wie ein Lehrer, der das Ende der Unterrichtsstunde verkündet. »Im Büro wartet ein anstrengender Tag auf mich.«
Heiselberg bedachte ihn mit einem wilden Blick. Jetzt stand er mit dem Rücken zur Wand, wirkte ratlos. Im ersten Licht des Morgens sah sie die Blässe, die sich auf seinem Gesicht ausgebreitet hatte. Möglich, dass ihm das Stehen Mühe bereitete. Aber er machte noch einen schwachen Versuch:
»Sie wissen, dass wir das nicht zulassen können? … Einen größeren Einfaltspinsel als Sie habe ich mein Lebtag nicht getroffen! Glauben Sie etwa, wir würden einem Frömmler wie Ihnen erlauben, in Gefahr zu bringen, was uns so viel bedeutet?«
»Sie werden es zulassen«, lachte Nikita Michailowitsch, »und wie Sie es zulassen werden! Genossin Weißberg, Sie sprachen davon, dass noble Taten kein Blut von den Händen waschen? Zeigen Sie uns doch einmal Ihre blutigen Hände, bitte …«
Heiselbergs Schultern sackten herab. Es schien, als hätte er seine Niederlage eingestanden und jegliches Interesse an dem ganzen Schauspiel verloren. Sascha verschränkte die Finger hinter ihrem Rücken.
»Das einzige, was dort zu sehen ist, ist ein Verband, den sie niemals abnimmt«, wandte sich Michailowitsch jetzt an den Deutschen. »Hat sie Ihnen erzählt, wie das passiert ist? Einer der Beschuldigten hat ihr kochenden Tee über die Hand geschüttet. Wann genau war das, Genossin Weißberg? Ende 1939? Eine kleine Verbrühung – und seither dieser Verband. Unser Arzt wechselt ihn alle zwei Wochen. Er sagt ihr jedes Mal: Es ist gut verheilt, Genossin Weißberg, Sie brauchen überhaupt keinen Verband mehr«, genüsslich imitierte Nikita Michailowitsch die Sopranstimme von Doktor Simjatin, »doch sie besteht darauf, weist ihn an, den Verband zu wechseln, und starrt derweil an die Decke. Ist nicht imstande, sich eine kleine Verbrennung anzusehen. Und dann Blut? Und noch dazu von Toten?«
»Sie sind erschöpft, Nikita Michailowitsch«, sagte Heiselberg leichthin, »stehen hier und faseln dummes Zeug. Ich sehe keinen Zusammenhang …«
»Den sehen Sie sehr wohl«, unterbrach ihn Nikita Michailowitsch. »Nur zu gut sehen Sie den. Sie haben niemals Blut an den Händen gehabt. Todesurteile im Hinterzimmer verhängen, darin tun sich Gentlemen wie Sie hervor. Aber den direkten Befehl erteilen, einen Menschen zu töten? Oder gar einen Menschen selbst zu töten, ihm das Messer ins Herz zu rammen oder ihm aus kurzer Entfernung eine Kugel in den Kopf zu jagen und das Hirn hervorspritzen zu sehen? Das haben Sie noch nie getan, nicht wahr? Es gelüstet Sie jetzt, mich irgendwo tief zu verscharren. Aber diesmal ist keiner da, der die Drecksarbeit für Sie erledigt. Es ist beinahe absurd. Sie beide haben den Tod von Hunderten, ja vielleicht Tausenden auf dem Gewissen, und jetzt plötzlich ein einziger kleiner Tod – und Sie wissen nicht wie.«
Nikita Michailowitsch baute sich zwischen ihnen auf, als wartete er auf eine Tat, die seine Behauptungen widerlegte, und nach einigen Sekunden marschierte er zur Tür und trat auf dem Weg dorthin gegen den Waschzuber. Der Bottich kippte um und das Wasser ergoss sich über den Fußboden und die Zeitungsausschnitte.
Sascha sah Thomas Heiselberg an, der sich nicht rührte. Wollen Sie nichts unternehmen?, forschte ihr Blick. Wollen Sie ihn nicht aufhalten?
Nikita Michailowitsch näherte sich ihr, das Gesicht eine ausdruckslose Maske.
Ihr Atem stockte, jetzt wird er mich schlagen. Sie wich zurück gegen die Wand, wartete auf eine Bewegung von Heiselberg, doch der betrachtete sie nur mit dem fassungslosen Erstaunen eines Fremden, den es rein zufällig hierher verschlagen hatte. Er schien wie gelähmt, Nikita Michailowitschs Widerstand hatte ihn auf den Boden der Realität zurückgebracht. Nicht einmal sprechen konnte er mehr.
Unter größter Anstrengung zwang sie sich, Nikita Michailowitsch anzusehen. Durch seine beschlagenen Brillengläser musterte er sie verächtlich. »Sie sind eine sich verkürzende Zeiteinheit«, flüsterte er und verließ das Zimmer.
Eine Weile standen sie wie versteinert. In der Wohnung über ihnen tapsten Füße umher, eine Frau ermahnte lautstark ihr Kind, endlich seine Schuluniform anzuziehen.
»Jetzt sind wir gezwungen, sein wahres Gesicht zu enthüllen«, stellte der Deutsche schließlich grimmig fest. Aber das
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