Gute Leute: Roman (German Edition)
kam zu spät – beide begriffen sie, wie schal diese Drohung klang. Also fügte er hinzu: »Vielleicht wird er gar nichts unternehmen. Nach allem wirkt er doch wie ein verantwortungsbewusster Mensch.«
Deutschland, 1941
Wenn er die Horizontlinie großer Städte vor sich sieht, erwacht zuweilen noch der Wunsch in ihm, mit einem halsbrecherischen Sprung ins Leben zurückzukehren.
Aber dann, auf gewundenen, von Schlaglöchern übersäten Straßen, in Badeorten entlang der Küste und winzigen Dörfern, legt sich der innere Sturm, und jene Stimme, die so gern Vorträge gehalten hatte und Menschen mit grandiosen Plänen in ihren Bann zu schlagen wusste, verstummt.
Zum Ende des Sommers war er nach Heiligendamm gefahren, wo seine Mutter in ihrer Jugend gern die Sommerferien verbrachte. Jeden Morgen schnürte er ein Bündel, darin ein Buch, ein breitkrempiger Hut, Handtuch, Sonnenbrille und ein kleines Notizbuch, und ließ sich auf einem Liegestuhl am Meer nieder. Hält er seine Träume fest? Kommt er mit mehrjähriger Verspätung Erika Gelbers Bitte nach und führt Tagebuch? Nicht ganz. Zuweilen erliegt er der Versuchung und kritzelt eine Idee in sein Büchlein, Maximen, an die er einst geglaubt hat, Eindrücke von einem jungen Paar mit Kindern, das an den Strand kommt, Sentenzen über ihr Tun, ihre Herkunft und die Zukunft der Kinder. Zeit im Überfluss führt den Menschen auf Bahnen, die ihm bisher überflüssig erschienen sind.
Nach einer Weile verstaut er die Kladde und folgt mit seinem Blick den Menschen, die von den Wellen verschluckt werden. Ob ihm wohler wird, wenn er ebenfalls im Wasser untertaucht?
Gern würde er ein Schläfchen halten. Doch bald ist es zu heiß. Er schwitzt, überall klebt Sand, auch in der Schamgegend juckt es. Schwerfällig erhebt er sich und kehrt auf sein Zimmer zurück. Menschen begegnen ihm, strömen zum Strand, auf ihren Gesichtern die Vorfreude auf diesen Tag. Er schließt sorgfältig die Fenster und zieht die Vorhänge zu, um die Sonne auszusperren.
Er liegt nackt in der Dunkelheit, fordert die Erinnerung heraus – bitte, zeige mir einige der Schrecken. Die Erinnerung spuckt Feuer: Gesichter, Ereignisse, Seiten aus dem Modell, eine Straße in Berlin – die Erinnerung hält Unmengen von Bildern parat. Er windet sich auf dem Bett, schlägt mit seinem Säbel aus Studententagen auf die Bilder ein, bis ihn der Schlaf überfällt.
Am Mittag wacht er auf, gibt den Sommerfrischlern die Schuld, die jetzt zum Speisesaal marschieren und ihn mit ihren Stimmen aus dem Königreich des Schlafes vertrieben haben.
Da es an Unternehmungen fehlt, die sein Lebenselixier waren, sind ihm nur die Bilder aus der Vergangenheit geblieben, um gegen das Nichts anzukämpfen. Wie ein Wanderer, der in ein Moor geraten ist, springt er von Stein zu Stein, versucht, den Fluss der Erinnerungen einzudämmen – die »Heiselbergtechnik der Nichterinnerung«. Zwar ist es unmöglich, die Bilder aus der Erinnerung zu verbannen, kein Mensch kann sie völlig zum Verschwinden bringen, daher muss man sie bearbeiten, muss sie ihrer Farben berauben, ihres Zusammenhangs, und sie in eine Sphäre verbannen, in der sie zwar wieder und wieder auftauchen, jedoch nicht mit der ursprünglichen Intensität. Man lernt, ganze Bereiche mit einer grauen Schicht zu überziehen, die ihnen den Stachel nimmt, bis man in der Erinnerung wie in einem Gruselroman blättert, den man einst gelesen hat, der jedoch bei nochmaliger Lektüre nicht mehr besonders furchterregend wirkt.
Nach einer Woche überkam ihn Ekel vor dem Geruch des Meeres und den nackten geröteten Leibern, die zwischen dem Strand und dem Salon des Hotels hin und her liefen. Wohin er sich auch wandte, er hörte nur Belanglosigkeiten, tumbe Kommentare über den Krieg im Osten. Um seine Seele zu besänftigen, unterdrückte er seine Abneigung gegen diese Gestalten und ihre trägen Bewegungen. Beim Abendessen kam es ihm vor, als ob Dutzende bebrillter und lethargischer Wellers ihn umzingelten und die Wehrmacht priesen.
Eines Tages setzte er sich in den Zug und beschloss, an einem der nahe zur belgischen Grenze gelegenen Bahnhöfe auszusteigen. In Aachen vielleicht. Nach zwei Stunden hielt der Zug unvermittelt an, und die Fahrgäste wurden gebeten auszusteigen. Feindliche Flugzeuge kreisten am Himmel, stießen herab, warfen ihre Schatten über die Felder. Die Fahrgäste drängten nach draußen, ihre Gepäckstücke umklammernd, und warfen sich unter die Waggons. Er aber
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