Guten Morgen, meine Schoene
gekommen, und, was noch wichtiger war, weshalb hatte sie ihn vor ihm versteckt?
Er las den Brief. Einmal, zweimal. Und als er sich schließlich alles zusammengereimt hatte, tauchten erneut Erinnerungen auf.
Und diesmal brach die Vergangenheit mit aller Macht über ihn herein. Stück für Stück fügte sie sich zu einem großen Ganzen.
Wynthrop kam Sarah noch imposanter und einschüch-ternder vor, als sie es in Erinnerung hatte.
Doch trotz Schmach und Demütigung, die sie dort erwar-teten, fiel Sarah gleichzeitig ein Stein vom Herzen, als sie den rostigen Wagen mit letzter Kraft die von Rhodo-dendronbüschen gesäumte Auffahrt entlang lenkte.
Während der letzten Meilen waren die Wehen immer qualvoller geworden und in immer kürzeren Abständen gekommen. Nur der Gedanke an die beiden Kinder im Wa-genfond und der Wille, unbedingt noch Wynthrop zu erreichen, hatten sie durchhalten lassen.
Als sie den Wagen vor der breiten Eingangstreppe anhielt, durchflutete sie ein unendliches Gefühl der Erleichterung, dem jedoch gleich eine neue Welle des Schmerzes folgte.
Leise stöhnend wartete sie, bis der Schmerz abgeebbt war.
Nur gut, dass beide Kinder mittlerweile eingeschlafen waren.
Sie erschrak, als die Eingangstür geöffnet wurde. Doch nicht, wie sie befürchtet hatte, ihre Mutter erschien oben am Treppenabsatz – sondern Mariah, die Haushälterin, eine grauhaarige Frau mit molliger Figur. Mit skeptischem Blick musterte sie das unbekannte Auto, das so gar nicht in diese vornehme Umgebung passte.
Sarah öffnete die Wagentür und stieg schwerfällig aus.
Sie hörte Mariah freudig »Sarah!« rufen, doch ihr Lä-
cheln machte einer besorgten Miene Platz, als sie sah, wie sich die junge Frau mit schmerzverzogenem Gesicht zu-sammenkrümmte.
Mariah eilte die Treppe herunter. »Sarah, mein Liebling, was ist passiert?«
»Bitte, Mariah, kümmere dich um Jamie und Vicky«, stieß sie mit gequälter Stimme hervor. »Aber zuerst…« sie umklammerte Mariahs Hände, »… hilf mir ins Haus, und telefonier nach einem Krankenwagen.«
Mit großen Schritten ging Jed in der Küche auf und ab.
Sein Bruder hatte also das Feuer verursacht, in dem Jeralyn umgekommen war. Es fiel ihm schwer, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen.
Und wann hatte Sarah davon erfahren?
Hatte sie es schon gewusst, als sie in jener stürmischen Nacht mit den Kindern bei ihm aufgekreuzt war? Oder war sie erst von der Kassiererin aufgeklärt worden, die ihr von Jeralyns Tod erzählt hatte? Oder hatte sie es durch Briannas Brief erfahren?
Er musste ihr in die Finger gekommen sein, als sie beide gemeinsam die Post der letzten Jahre durchgesehen hatten.
Er erinnerte sich noch sehr gut an ihren schuldbewussten Gesichtsausdruck, als er sie am nächsten Morgen schon so früh an seinem Schreibtisch gefunden hatte. Offenbar hatte sie da den Brief heimlich an sich genommen.
Ein Grund mehr, nach ihr zu suchen. Wo aber sollte er beginnen? Er wusste so gut wie nichts über sie.
Zuerst einmal musste er sich einen Wagen besorgen. Er be-stellte sich ein Taxi und ging nach oben, um eine kleine Reisetasche zu packen.
Wo immer du auch bist, Sarah Morgan, dachte er grimmig, ich werde dich finden. Zwischen uns beiden gibt es noch einiges zu klären!
»Mom!« Tränenüberströmt stürmte Vicky in das Zimmer ihrer Mutter. »Ich mag Grandma nicht!«
Sarah saß in einem Lehnstuhl am Fenster und stillte ihre drei Tage alte Tochter. Das Baby ließ sich durch die große Schwester nicht beim Trinken stören. Ein Wunder, dass ich bei der angespannten Atmosphäre in diesem Haus überhaupt noch Milch habe, dachte Sarah.
Sie zog Vicky mit dem freien Arm an sich. »Es ist sehr freundlich von Grandma, uns hier wohnen zu lassen. Ich weiß, es fällt dir schwer, dich an sie zu gewöhnen, aber…
für sie ist es ebenfalls nicht einfach, auf einmal drei Kinder in ihrem hübschen Haus zu haben.«
»Jamie hat doch nicht absichtlich den Meisenteller…«
»Meissener, mein Schatz. Natürlich hat er ihn nicht absichtlich fallen lassen.«
»Du hast uns noch nie bestraft, wenn uns so etwas passiert ist.«
In ihrer Empörung über die ungerechte Behandlung ihres Bruders vergaß Vicky sogar vorübergehend ihren eigenen Kummer.
»Und wegen eines doofen alten Tellers würden wir bei dir nie Zimmerarrest bekommen!«
»Es war ein sehr kostbarer alter Teller, Liebling«, versuchte Sarah, ihre erzürnte Tochter zu beschwichtigen.
Das Baby hatte zu trinken aufgehört, und sie legte es
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