Guy Lacroix: Auf der Jagd nach dem Rosenkranzmörder (Clockwork Cologne) (German Edition)
die Akten gesehen, bevor sie mit Sicherheitsstufe Blau gekennzeichnet und weggeschafft wurden. Er ballte die Fäuste, die Nägel gruben sich tief in seine Handflächen, aber er spürte es nicht. Der Schmerz, der in ihm loderte, überdeckte alles andere. Die Stimme des Pfaffen, das Knirschen der Zahnräder, als die Apparatur sich in Bewegung setzte und der Sarg langsam in die Tiefe pendelte.
Hedwig würde brennen und Guy brannte mit ihr.
4
Ich habe es geschafft. Es war lächerlich einfach und fast bin ich ein wenig enttäuscht, dass meine Kenntnisse ausreichten, der Materia ihre Geheimnisse zu entlocken. Sollte nicht mehr dahinter stecken? Komplexere Vorgänge, unbekannte Zusammensetzungen? Aber es handelt sich nur um eine Verbindung aus den Grundstoffen des Lebens mit Ætherblau, die sich rasend schnell zu etwas ganz neuem entwickelt hat. Und sie entwickelt sich immer weiter. Während ich diesen Satz schreibe, verändert sie ihre Form abermals, und bevor die Tinte getrocknet ist, hat sie eine andere Gestalt angenommen.
Sie belauert jede meiner Bewegungen, wehrt sich aber weder gegen die Untersuchungen, noch dagegen, dass ich Proben entnehme. Sie regeneriert sich. Sobald ich ein Stück entnommen habe, entsteht neues. Sie ersetzt nicht nur das Fehlende, sie scheint sich zu verbessern. Ich bin mir sicher, dass sie lernt. Sie ist intelligent.
Was könnte ich entstehen lassen, wenn es gelänge, die Materia mit menschlichem Leben zu verbinden … Krankheiten gehörten bald der Vergangenheit an. Die Menschheit würde zu einer ganz neuen, widerstandfähigeren Spezies werden, die in der Lage wäre, sich auf alle erdenklichen Gegebenheiten einzustellen. Selbst die verstrahlten Gebiete könnten wieder bevölkert werden. Und natürlich der Mond. Die Ætherraumfahrt machte einen in hundert Jahren nicht zu erreichenden Entwicklungssprung, in wenigen Jahrzehnten könnten wir das gesamte Weltall bevölkert haben.
Ich bin aufgeregt wie ein Schuljunge und schäme mich dessen nicht. Magister Pötts wäre unglaublich stolz auf mich, wenn er mich jetzt sehen könnte. Aber wer weiß, vielleicht kann er das bald tatsächlich wieder.
Ich beginne mit Versuchen an Tieren. Felix, mein treuer Kater, wird der erste sein.
Ich habe die Quintessenz der Materia extrahiert und zusammen mit einer Lösung aus Wasser, Sodium, Chlor, Proteinen, Glukose, acidum lacticum und urea auf 37 Grad erhitzt. Es ist soweit. Meine Hände zittern. Das ist ein denkwürdiger Tag.
Absolon Quast legte die Feder in die Schale und verschloss das Tintenfass. Versonnen kraulte er den Kopf des Katers, der sich auf seinem Schoß zusammengerollt hatte und leise schnurrte. In seinem Kopf kreisten die Gedanken wie Strudel, spülten Worte, Formeln und Thesen durch seinen Geist. Er ging jeden Schritt noch einmal durch, suchte nach Fehlern, nach möglichen Abweichungen, unvorhersehbaren Entwicklungen, spontanen Mutationen, kam aber immer wieder zu dem gleichen Schluss. Es war möglich. Aber es schien so einfach, dass er seinen Berechnungen nicht traute. Sein ganzes Leben hatte er nach dem Allheilmittel – dem Panacea – gesucht, genau wie sein Meister und alle Alchemisten davor. Konnte es ihm auf so lächerlich einfache Weise in den Schoß gefallen sein? Nach einer Weile schüttelte er den Kopf und setzte den Kater auf den Boden, stand auf und schnitt eine Rinderleber in kleine Stückchen. Der alte Kater humpelte hinter seinem Herrn her, strich um seine Beine und maunzte.
»Ja, mein Bester.« Absolons Stimme klang belegt. Er steckte einige Stücke der rohen Leber in den Mund und kaute gedankenverloren, dann wischte er sich über die Augen, bevor er die restliche Leber in die Futterschale gab. »Es wird dir nichts geschehen«, sagte er. »Ich verspreche es. Du wirst sehen, es wird dir besser gehen. Dein Bein wird heilen, deine Augen werden klar.« Wie um seine Worte zu bestätigen, nickte er immer wieder. »Es wird dir gut gehen.«
Der Kater leckte die Schale sauber und Absolon nahm ihn auf den Arm. Er trat vor den Flüssigkeitsbehälter und küsste seinen alten Freund auf den Hinterkopf. Dann warf er ihn in die Nährlösung und verschloss den Deckel. Der Kater kämpfte. Er strampelte und versuchte sich an der Glaswand festzukrallen, rutschte aber immer wieder ab. Schließlich ließen seine Kräfte nach und er sank auf den Grund; seinen Blick hilfesuchend auf Absolon gerichtet, bis zuletzt.
»Es wird alles gut«, sagte Absolon noch einmal. Dann goss er sich eine
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