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H2O

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Titel: H2O Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patric Nottret
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Dampflokomotiven wurden zu Destillierapparaten umfunktioniert. Die meisten wurden ohne Kabine oder Räder benutzt, denn für die Gewinnung waren nur die Heizkessel von Nutzen. Sie ersetzten die alten Destillierapparate über offenem Feuer. Diese ausrangierten Loks destillierten Tonnen von Vetiverwurzeln und Geraniumblättern, deren ätherisches Öl mithilfe von Unmengen Akazienholz für die Pariser Parfumhersteller gewonnen wurde ... So, nun wissen Sie schon ein wenig mehr über die Parfum-Lokomotiven von damals. Die Person, die mir diesen Streich gespielt und mich erschreckt hat, hat sich mit Maschinenöl eingeschmiert ... So weit alles klar, großer Meisterdetektiv?«
    »Gewiss, Madame Hoareau, gewiss. Obwohl ... ich habe noch immer keine Erklärung für das Kupfersulfat.«
    »Die hätten Sie, wenn Sie vor einer dieser Lokomotiven stünden. Früher verwendete man noch wertvolle Materialien, zum Beispiel Kupferplatten. Eine der Dampfloks wurde restauriert. Heute glänzen und funkeln ihre Kupferbeschläge wieder. Doch auch andere Teile im Innern waren aus Kupfer, so etwa die Rohre.«
    »Bleibt das Rizinusöl ...«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Ach, und wieso nicht?«
    »Als ich die restaurierte Lokomotive besichtigt habe, erfuhr ich, dass diese Maschinen während des Zweiten Weltkriegs mit Rizinusöl betrieben wurden, weil Kohle Mangelware war. Das muss ganz schön gestunken haben, wenn sie durch einen Tunnel fuhren.«
    »Und der weiße Ton?«
    Die üppige Dame zuckte mit den Schultern.
    »Keine Ahnung!«
    »Wissen Sie denn, wo man diese Parfüm-Loks heutzutage noch finden kann?«
    »Ich könnte zwei oder drei Parfumölproduzenten anrufen. Außerdem kenne ich einen Archäologen, der in La Saline arbeitet. Seine Nummer kann ich Ihnen gerne geben. Er ist bestens mit der Inselgeschichte vertraut.«
    »Verbindlichsten Dank, Madame Hoareau. Ah, sagen Sie mal, würden Sie mir Ihr Gewehr borgen? Ich könnte es für Sie reinigen.«

89
 
 
 
    Nachdem er mehrere Stunden durch die sengende Hitze gefahren war, parkte Sénéchal seinen Geländewagen am Straßenrand und stieg, sein Notizbuch in der Hand, aus. Er hatte sich nach den Angaben von Madame Hoareaus Bekannten einen Plan gezeichnet. Der Mann hatte ihm versichert, dass es auf der ganzen Insel nur noch zehn Lokomotiven gab. Dem Umweltinspektor fiel auf, dass er fast wieder an seinem Ausgangspunkt angekommen war - nach einer langen Fahrt zu den Überresten alter Dampfmaschinen, nun eher unförmige Schrotthaufen, die man auf irgendeinem Acker oder Hinterhof vergessen hatte. An keiner hatte er Spuren von Schmieröl entdecken können. Die letzte Lok konnte nicht mehr weit weg sein, falls es sie überhaupt noch gab. Er stellte fest, dass er nur wenige Kilometer von Madame Hoareaus Häuschen entfernt war.
    Schon brach die Dämmerung herein. Die Berggipfel verfärbten sich bläulich, und in der gewaltigen Talenge, die er kilometerweit entlanggefahren war, wurde es immer düsterer. In den Dörfern weiter unten gingen die ersten Lichter an.
    Sénéchal nahm Madame Hoareaus altes Gewehr vom Rücksitz des Wagens und schlüpfte in seinen weiten Mantel. Er holte eine Stablampe aus dem Handschuhfach und machte sich, das Gewehr wie ein Sonntagsjäger geschultert, mit raschem Schritt auf die Suche.
    Er schlug einen Weg ein, der sich unter Tamarinden entlangschlängelte. Nach einer letzten Biegung trat er aus dem Schutz der Bäume. Vor ihm lag eine enge, von drei Granitvorsprüngen gesäumte Schlucht. Der Himmel über dem fernen Vulkan färbte sich rötlich. Die spärliche Vegetation und der seltsam gewölbte Boden bezeugten, dass die träge dahinfließenden Lavaströme des Vulkans Jahr für Jahr ihren Weg in dieses natürliche Bett gefunden hatten und hier erstarrt waren. Eine zerklüftete Landschaft aus mineralischen Wellen, dunklen Riffeln und aufgetürmten tiefschwarzen Felsbrocken. In einiger Entfernung konnte Sénéchal ein großes metallenes Gebilde ausmachen. Er murmelte:
    »Ein finsterer Ort. So dürfte es auf dem Mond aussehen ... wenn man sich die Pflanzen wegdenkt.«
    Er setzte seinen Weg fort. Der Boden unter seinen Füßen klang hohl. Rund fünfzig Meter weiter tauchte hinter einer Baumgruppe das Dach einer Hütte auf.
    Die Tür war verschlossen, die Holzläden vor den Fenstern waren verriegelt. Sénéchal bemerkte die in Töpfe gepflanzten Sträucher rund um die Veranda, auf der ein Liegestuhl und in einem Plastikeimer eine Kokospalme standen. Irgendwo gackerte ein Huhn.

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