Hab keine Angst, mein Maedchen
sie starrsinnig sind. Wenn sie keine Träume mehr haben und ihren unerfüllten von damals dauernd hinterhertrauern und dadurch überhaupt nicht mehr sehen, dass auch ihre Gegenwart noch welche für sie parat hält. Dieser Dunst aus Verbitterung stößt mich ab.
Mir imponiert an alten Menschen, wenn sie ihr Alter mit Würde annehmen und noch Interessen haben. Ein Beispiel ist mein Malkurs. Der Altersquerschnitt geht von 40 bis 90, und es sind sowohl Frauen wie auch Männer dabei. Am meisten imponieren mir zwei Schwägerinnen. Sie sind 85 und 90 Jahre alt und unternehmen zusammen sehr viel. Sie schnippeln für große Feiern gemeinsam den Kartoffelsalat und sagen selbst, zu Hause tut ihnen oft jeder Knochen einzeln weh, aber hier in der Gemeinschaft vergessen sie alle Schmerzen. Sie kichern und kokettieren und malen wunderschöne Bilder.
Wenn ich ganz plötzlich mein Heim verlassen müsste, würde ich Bilder und Fotos mitnehmen.
Ich als 86-Jährige? Wenn ich versuche, mir das vorzustellen, habe ich sofort Doppelbilder. Einmal sehe ich eine recht gesunde, gelassene alte Frau, die mir ähnlich sieht. Mit weiten Röcken, in denen sie sich gern bewegt. Sie hat Kontakt zu Menschen und lebt und lacht immer noch gerne.
Dann sehe ich eine alte Frau im Bett liegen, die Hilfe braucht. Sie ist einsam, und durch ihre Verbitterung vergrault sie die letzten Menschen aus ihrer Umgebung.
Kapitel 5
Ich war es gewohnt, aufmerksam betrachtet zu werden, und war mir meiner Attraktivität durchaus bewusst. Ich war schlank. Nicht das heruntergehungerte Modell mit Restbauch, eingefallenen Hinterbacken und unförmigen Stelzen. Sondern alles gut geformt und knackig trainiert. Reiten und Joggen zahlten sich aus. Weizenblondes Haar. Klassisch halblang geschnitten. Hellbraune Augen mit fein geschwungenen Brauen. Die hohen Wangenknochen gaben mir etwas Aristokratisches. Mein Kleidungsstil war ebenfalls von schlichter Eleganz. Ich wirkte unnahbar, so sagte man. Interessierte Männerblicke streiften mich immer nur kurz und wandten sich mit einer gewissen Scheu wieder ab. Ich war eine zum heimlich Angucken, nicht zum Anfassen. Der Status gefiel mir.
Und nun stand ich vor dem Schreibtisch dieses Polizeibeamten und wurde von ihm angestiert, als wäre ich aus dem Zoo entlaufen. Zugegeben, in Reithosen wirkte ich hier sicher ein wenig fehl am Platz. Doch auch oder gerade in diesem Outfit wurde ich bislang mit Respekt behandelt. Aber dieser junge Schnösel ließ seinen Blick ohne Hemmungen von oben bis unten über meinen Körper gleiten. Ich spürte wieder die klebrigen Hände des maskierten Typen, hatte wieder seine Ausdünstungen in der Nase.
»Werden Sie fürs Anstarren bezahlt?«, blaffte ich ihn an.
Der Jüngling schien über keinerlei gesunde Reflexion zu verfügen. Anstatt nun den Blick verlegen zu senken, zog sich über sein Gesicht ein belustigtes Grinsen. Kleines Arschloch, dachte ich, aber ich bemühte mich, meine aufschäumende Wut im Zaum zu halten. Wütende Gedanken vernebeln das Hirn. Dass diese gern vorgebrachte Weisheit meiner Mutter schlicht und ergreifend der Wahrheit entsprach, würde ich ihr gegenüber nie zugeben.
»Ich möchte eine Anzeige machen. Wenn möglich bei einem kompetenten Beamten.«
Sein Grinsen blieb ungebrochen, es verstärkte sich sogar. Aber er stand auf und sagte: »Kleinen Moment, junge Frau. Kollege kommt gleich.«
Er öffnete eine Tür und rief lautstark in das Nebenzimmer.
»Jens-Dieter! Dein Typ wird verlangt!«
Jens-Dieter war ein Polizeibeamter wie aus dem Bilderbuch. Mitte 50. Halbglatze und viel Bauch. Er kam auf mich zu, reichte mir eine warme, feste Hand und sagte mit väterlichem Unterton: »Guten Abend. Dann kommen Sie mal mit in mein Büro.«
Ich folgte ihm. Nicht ohne dem Jungspund einen bösen Blick zuzuwerfen und zu sagen: »Danke, junger Mann.«
Polizist Jens-Dieter hieß mit Nachnamen Fricke. Er bot mir in seinem Büro einen Stuhl an und setzte sich mir gegenüber. Alles sehr bedächtig, als verfüge er über alle Zeit der Welt.
»Sie wollen also eine Anzeige erstatten?«, resümierte er den Sachverhalt.
»Ja«, sagte ich mit neu aufkommender Ungeduld. So langsame Menschen erhöhten schon immer meinen Pulsschlag. Ich nahm mich zusammen und sagte so liebenswürdig wie möglich: »Ich bin wirklich in Eile und wäre Ihnen dankbar, wenn wir die Formalitäten schnell erledigen könnten.«
Er nickte verständnisvoll und öffnete auf seinem Rechner umständlich eine Datei. »Worum
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