Hab keine Angst, mein Maedchen
war unmöglich. Die einzige logische Erklärung: Meine verwirrte Fantasie gaukelte mir ein Trugbild vor. Diese beunruhigenden Halluzinationen vor einem Migräneschub hatten Patienten mir oft lebhaft beschrieben. Ich hatte bereits Kopfweh, und es wäre nach dem Erlebnis im Auto nicht verwunderlich, eine Migräne zu entwickeln. Die gute Nachricht war: Diese präpsychotischen Empfindungen würden sich wieder in Luft auflösen. Irgendwann. Trotz der bestechenden Klarheit meiner Gedankengänge blieb ich unschlüssig auf dem Bürgersteig stehen. Das Haus erschien mir einfach zu fremd.
»Guten Abend, Frau Meinberg!«
Ich fuhr herum. Eine weißhaarige, alte Dame lächelte mich freundlich an. Sie trug ein signalrotes, sommerliches Trachtenkostüm mit passendem Hütchen. Ihr Yorkshire-Terrier riss stürmisch an der Leine. Er wollte mich anscheinend begrüßen. Ich blieb steif stehen und versuchte, meine Lippen in Richtung Lächeln auseinanderzuziehen.
»Ich bewundere Sie wirklich, Frau Meinberg. Kaum zu glauben, wie eisern Sie sind und wie Sie das immer noch schaffen«, plauderte die Fremde vertraulich los und tat, als würden wir uns bestens kennen. Aber ich kannte sie nicht.
»Wie meinen Sie das? Was schaffe ich noch?«, wiederholte ich fahrig, um überhaupt irgendetwas zu sagen.
»Nun ja, jeden Tag in den Stall und aufs Pferd. Und das in Ihrem Alter bei der schwülen Witterungslage. Ich schaffe mit Ach und Krach die Gassi-Runden mit Linus.«
Ich nickte ihr mechanisch zu. In Ihrem Alter , dachte ich. Von mir aus. Die Gute befand sich schon auf einer gnädigen Wolke und realisierte den Altersunterschied zwischen uns nicht mehr. Und die Tatsache, dass Menschen aus unserer Straße mich kannten und ich sie nicht, war keine außergewöhnliche Begebenheit für mich. Für gesellige Schwätzchen am Gartenzaun hatte ich keine Zeit. Nur unseren direkten Nachbarn, Herrn Lammer, kannte ich vom Sehen. Außerdem kam jeden Tag ein Schwung neuer Patienten in meine Praxis. Ich konnte mir nicht alle Gesichter merken, während ich in ihrem Leben eine wichtige Funktion erfüllte und ihnen wie eine nahe Bekannte erschien.
Ich wendete mich von der Alten ab und ging auf das fremde und doch so vertraute Haus zu. Ich stieg langsam Stufe für Stufe die Außentreppe hoch. Das fiel mir ungewöhnlich schwer, als hätten die Stufen innerhalb der letzten Stunden an Höhe zugenommen. Mein linkes Knie schmerzte unter jeder Beugung. Wie dumm von mir. Ich hatte es am Vortag auf dem Laufband übertrieben. Aber während des Trainings sah ich mir immer eine aufgenommene Dokumentation an, und die von gestern hatte Überlänge. Das hatte ich erst im Nachhinein bemerkt.
Mit viel zu schnell klopfendem Herzen und zitternder Hand steckte ich den Schlüssel in das Loch. Er passte. Natürlich. Wie hatte ich nur eine Sekunde daran zweifeln können. Ich öffnete die Tür und blieb für einen Augenblick ohne Licht im Hausflur stehen. Erst einmal durchatmen. Irgendwie roch es anders als sonst. Süßlich. Nicht unangenehm. Das schwere Aroma erinnerte mich an etwas. Eine Erinnerung, die mich tief drinnen ruhiger werden ließ.
»Hans!«, rief ich in das Haus. Keine Antwort. »Mira! Lasse!« Niemand antwortete. Nur der Klang meiner eigenen Stimme hallte zurück. Ich tastete nach dem Lichtschalter. Die Helligkeit blendete mich. Ich blieb blinzelnd stehen, bis ich wieder sehen konnte. Was ich sah, konnte ich kaum glauben.
Das Schuhregal war bis auf zwei Paar Damenschuhe, die mir nicht gehörten, und ein Paar Hauslatschen völlig leergeräumt. Normalerweise quoll es von kunterbunt durcheinandergewürfelten Kinderschuhen über. Selbst Elly, unsere wirklich richtig gute Haushaltshilfe, schaffte es nur für einen kurzen Zeitraum, eine gewisse Ordnung reinzubringen.
Wo waren die ganzen Schuhe, und wo, zum Kuckuck, waren Hans und die Kinder? Es war Mittwoch, und Mira und Lasse hatten keine Ferien. War irgendeine Trainingsstunde nach hinten verlegt worden, und Hans war unterwegs, um sie abzuholen? Wenn es so war, hatte er mir sicher eine Nachricht hinterlassen. Ich ging in die Küche.
Auf unserem großen Eichentisch standen eine Kerze und ein kleiner Strauß mit Astern. Sonst war auch er ungewöhnlich freigeräumt. Das blanke Holz spiegelte im Lichtkegel der Lampe. Nirgendwo eine Nachricht von Hans oder den Kindern zu entdecken. Dabei funktionierte das Zettelhinterlegen bei uns fabelhaft. Wir meldeten uns immer schriftlich ab. Frucht meiner Erziehung.
Und wie sah es hier
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