Hab keine Angst, mein Maedchen
auf.
Ich nannte ihr die Zahlen. Magdalene tippte sie ein und reichte mir das Handy wieder herüber. Ich hielt es ans Ohr. Aber ich hörte kein Freizeichen und nach dem Abnehmen Neles vertraute Begrüßungsformel, sondern einen lang gezogenen Quäkton. Der wurde von einer technischen Stimme abgelöst: Kein Anschluss unter dieser Nummer. Mist!
»Könnten Sie es bitte noch einmal versuchen. Vielleicht …« Ich vollendete den Satz nicht, denn ich wollte Magdalene auf keinen Fall verärgern. Aber so schnell, wie sie die Zahlen eingetippt hatte, war es mehr als wahrscheinlich, dass sich ein Dreher eingeschlichen hatte.
Sie griff kommentarlos nach dem Handy, und ich diktierte. Dieses Mal ganz langsam. Ich sagte ihr immer erst die nächste Zahl an, wenn durch ein Piep die Eingabe der vorangegangenen bestätigt wurde.
Aber als ich das Handy an mein Ohr hielt, hörte ich die gleiche Leier wie beim ersten Mal: Kein Anschluss unter dieser Nummer.
Hatte ich etwa selbst die Telefonnummer durcheinandergebracht? Das konnte nicht sein. Die würde ich aus dem Tiefschlaf heraus richtig ansagen können. So was Blödes, aber was sollte ich machen. Es war mir zu peinlich, Magdalene ein drittes Mal zu bitten. Und außerdem: Nele war schließlich keine Anfängerin, tröstete ich mich. Sie würde sich schon zu helfen wissen und die Warterei überbrücken.
Hans. Der Gedanke an ihn ließ mir einen Kloß im Hals wachsen. Warum hatte ich nicht ihn angerufen? Nein, mein erster Gedanke hatte der Praxis gegolten. Jetzt war es zu spät. Hans war bereits unterwegs, und seine Handynummer wusste ich nicht aus dem Kopf. Dabei hätte er mir geholfen. Hans wusste immer einen Ausweg. In dem Augenblick wurde mir schmerzhaft bewusst, wie sehr Hans mir den Rücken frei hielt. Dabei war er selbst voll berufstätig. Trotzdem hatte er immer ein offenes Ohr und Zeit. Für mich und für die Kinder. Die Kinder. Mit Macht drängten sich die verwirrenden Erlebnisse der letzten Nacht in den Vordergrund und warfen wieder unzählige Fragen auf. Warum war meine Familie verschwunden? Warum hatte man unser Haus komplett umgeräumt? Wer, verdammt noch mal, war Dr. Ohlsen? Und wer die unbekannte Frau am Telefon, die sich als meine Tochter Mira ausgegeben hatte?
Entsprachen die Erinnerungsfetzen wirklich der Realität? Oder waren sie nur ein Produkt meiner Fantasie? Schließlich war auch ich nicht gegen Psychosen immun. Das hatten sich schon ganz andere eingebildet. Vielleicht waren meine Zwangsunterbringung in diesem ›Was-auch-immer-Hotel‹ und die Fürsorge um meine Person berechtigt. Die beschämende Erinnerung, den vermeintlichen Dr. Ohlsen mit Kraft getreten und gebissen zu haben, streifte mich. Der Ärmste. Dabei wollte er mir vielleicht nur helfen. Konnte das sein?
Ich gab mir einen Ruck und fragte Magdalene: »Was ist das hier für eine – eine Einrichtung?«
Ihre wunderschönen grauen Augen musterten mich aufmerksam. Ich bildete mir ein, in ihnen einen Hauch von Mitleid zu erkennen.
»Das hier ist das ›Domizil am See‹.« Magdalene zögerte, dann fügte sie hinzu. »Es ist eine Einrichtung, die sich auf die Pflege und Betreuung Demenzkranker spezialisiert hat.«
Bevor ich es verhindern konnte, klappte mir mein Unterkiefer herunter. Magdalene sah taktvoll zur Seite. Ich auch.
Pflege und Betreuung Demenzkranker. Die beiden Frauen am Nebentisch saßen fallgesichert in Mobilisationsstühlen. Die eine war eingeschlafen. Die andere schaute ohne erkennbare Regung aus dem Fenster. Eindeutig. Das waren keine Senioren, die ein nettes Wochenende im Hotel verbrachten. Anscheinend war ich hier in eine Art ›Edel-Altersklapse‹ gelandet.
Der agile Herr, der mich schon beim Hereinkommen angestrahlt hatte, fing erneut einen Blick von mir auf. Nun fühlte er sich unwiderruflich ermutigt und stand auf. Er formierte sich mit Rollator in meine Richtung und marschierte los. Hilfe! Das hatte mir gerade noch gefehlt.
In meinem Kopf ratterten die Überlegungen. Wie kam ich so schnell wie möglich von hier weg? Das Haus lag am See. Mamas Datscha musste sich ganz in der Nähe befinden. Ich würde sie anrufen. Immerhin riss sie sich ständig darum, etwas für mich zu tun. Bitte schön. Jetzt hatte sie die Gelegenheit dazu. Ich wandte mich Magdalene zu. Es blieb mir nichts anderes übrig, als sie noch einmal zu belästigen.
»Tut mir leid, wenn ich nerve. Aber ich muss, ich müsste ein letztes Mal telefonieren, bitte«, haspelte ich.
Sie nickte nur stumm. Auf jeden
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