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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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Jahre
     
    Das Wort ›alt‹ hat für mich etwas mit Zyklus, Relation, Zeit und Bewegung zu tun. Da ist im Grunde der Begriff ›alt‹ nicht passend, da er ein statischer Ausdruck ist und es ›alt‹ in dem Sinne gar nicht gibt.
    Was mich an alten Menschen stört und was mir imponiert, die beiden Fragen sind für mich einfach zu beantworten und nicht voneinander zu trennen. Wir Menschen sind Individuen. Als Beispiel: Nimm eine Handvoll Sand am Strand auf und urteile, welches Korn älter oder jünger ist. So wie das einzelne Korn im Sand am Strand, so sind wir auch. Nur der Zusammenhalt macht uns zu dem, was wir sind. Es ekelt mich, ob einer 30 oder 90 Jahre alt ist, wenn er in die Hose macht.
    Es imponiert mir, wenn einer mit 30 seine Gebrechen beherrscht genauso wie mit 90.
    Wenn ich plötzlich mein Heim verlassen müsste, würde ich vielleicht Kleidung mitnehmen. Ich weiß es nicht. Es kommt auf die Umstände an, die Zeit, die einem zum Überlegen bleibt.
    Wie sehe ich mich als 86-Jähriger? Die Frage kann ich nicht beantworten. Ich schaue aus meinen Augen in die Welt und nehme sie mit meinen Sinnen wahr. Spiegelbilder von mir, nee. Ich will es auch gar nicht wissen. Denn ich sehe mich im Einklang mit der Natur. Und so existieren ich und auch alle anderen bzw. meine Atome seit dem Anbeginn der Zeit und darüber hinaus. Und da ist wieder der Bezug zu der ersten Frage. Was verbinde ich mit dem Wort ›alt‹? Bin ich jung und am Anfang des kosmischen Ganzen oder an dessen Ende?

Kapitel 12
     
    Magdalene sah aus dem Fenster. Lange, als hätte sie alle Zeit der Welt. Ich kochte vor Ungeduld. Was war an dem Blick nach draußen so interessant? Ihr Zimmer lag nebenan, und von dort hatte sie sicherlich die gleiche Aussicht. Endlich drehte sie sich zu mir um.
    »Erzählen Sie mir Ihre Geschichte«, forderte sie mich auf.
    Mir rutschte ein trockenes Lachen heraus. Die Art und Weise, wie sie mich zum Erzählen aufforderte, war verkehrte Welt. Ich fühlte mich aus der vertrauten Rolle der Ärztin in die einer Patientin katapultiert. Erzählen Sie mir Ihre Geschichte, wiederholte ich in Gedanken. Etwas in mir sehnte sich danach, sie zu erzählen. Ohne Scham und vor allem ohne Angst. Aber …
    »Das geht nicht so einfach«, wich ich aus. »Und ich habe keine Zeit zu verschwenden.«
    »Ich ebenfalls nicht«, entgegnete Magdalene weiterhin seelenruhig. »Aber ich möchte Sie verstehen. Sonst kann ich Ihnen nicht helfen.«
    Helfen, dachte ich. Ja, ich brauchte Hilfe. Ein fremder Gedanke für mich. Es fiel mir ungeheuer schwer, Schwäche zu zeigen. Man vermutete sie auch nicht bei mir. Ich war die Starke. Immer schon gewesen.
    »Setzen wir uns«, sagte Magdalene und rückte sich einen Stuhl zurecht.
    Ich hätte mich gern widersetzt. Ihr gesagt, es reiche völlig, wenn ich ihr im Telegrammstil meine Erlebnisse berichte, und dann so schnell wie möglich weg hier. Ab in die Praxis und nach Hause. Endlich klären und verstehen, was wirklich passiert ist.
    Aber ich setzte mich folgsam auf den zweiten Stuhl im Zimmer. Zumal mir das Stehen auf einer Stelle ungewöhnlich schwerfiel. Meine Beine begannen zu schmerzen und waren an den Fesseln leicht angeschwollen.
    Magdalene sah mich abwartend an. »Nun?«
    »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, versuchte ich mich noch einmal herauszuwinden.
    »Beginnen Sie hinten oder vorn oder mittendrin. Fangen Sie einfach an zu erzählen.«
    Mich durchströmte ein warmes Gefühl der Geborgenheit. Einfach so zu erzählen, ohne die Anstrengung, es chronologisch zu ordnen. Das hörte sich gut an. Ich entspannte mich ein wenig.
    »Jetzt fällt mir doch der Anfang ein. Jedenfalls glaube ich, dass es der Anfang war.« Ich lächelte Magdalene scheu an. Sie erwiderte es freundlich ermutigend.
    »Ich bin gestern auf dem Rückweg von – von einem Besuch bei meiner Mutter im Auto überfallen worden. Ich sollte Geld von meinem Konto abheben. Aber der Typ, wollte – er wollte mehr von mir, verstehen Sie. Es war furchtbar. Ich bin vor Angst fast gestorben und konnte nicht mehr denken. Außer: Der fasst mich gleich an. Der kommt mir ekelerregend nah.
    Ich bin ohnmächtig geworden vor Angst. Ganz kurz. Danach war alles anders. Von einer Sekunde zur anderen hatte sich seine Geilheit in Luft aufgelöst. Er hatte kein Interesse mehr an mir. Im Gegenteil. Er hatte Angst. Er war regelrecht in Panik. Ich vermute, es war ein entgleister Kokstrip. Da erkennen die manchmal ihre eigene Mutter nicht wieder. Ich muss

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