Hab keine Angst, mein Maedchen
die Gäste! Ich war längst stehen geblieben. Mein Gehirn übersetzte nur langsam meine visuellen Eindrücke. Als wollte es mich schonen. Die Gäste waren alt. Ohne Ausnahme. Der Geräuschpegel erreichte meine Sinne. Er war ebenfalls ungewöhnlich. Nicht das Summen gedämpfter Unterhaltung erfüllte den Raum, sondern emsige Schlürf- und Schmatzgeräusche. Sogar ein hemmungsloser Rülpser. Ich zwang mich, genauer hinzusehen. Ihre Kleidung, ihre ganze Aufmachung. Die Alten waren angezogen, als säßen sie in ihrer Küche. Als wären sie hier zu Hause. Einige hatten ein Geschirrhandtuch als Lätzchen umgebunden, und vor ihnen stand eine Schnabeltasse auf dem Tisch. Hatten sie ein Pflegeheim in die Anlage integriert? Ich dachte an Frau Hartwig auf meiner Etage. Sicher, das konnte sein. Aber warum sollte ich ausgerechnet hier frühstücken? Ich hatte Frau Bremer ein geschickteres Händchen im Service zugetraut. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre gegangen, aber meine Begleiterin stand dicht neben mir. Wachsam. So als wäre sie jederzeit bereit, mich festzuhalten. Der Gedanke war unsinnig. Aber ich hatte weder Energie noch Zeit, um eine passendere Lokalität für mich einzufordern.
»Wo möchten Sie sitzen?«, fragte Frau Bremer heiter. Dabei breitete sie beide Arme aus, um mir das Angebot der freien Auswahl zu signalisieren.
»Nirgendwo«, antwortete ich knurrig. »Ich brauche keinen Sitzplatz. Ich bin gewohnt, meinen Kaffee im Stehen zu trinken. Und im Übrigen: Ich esse morgens nichts.«
Genauer gesagt, ich trank meinen Kaffee immer auf dem Weg in die Praxis aus meinem Thermobecher. Doch das brauchte ich ihr nicht auf die Nase zu binden.
»Am Morgen nichts essen? Aber Frau Meinberg, gerade für das Frühstück sollte man sich besonders viel Zeit nehmen. Mit der Mahlzeit geht man in den Tag«, war ihr liebevoller Kommentar. Sie erinnerte mich augenblicklich an meine Mutter.
Ich stöhnte auf. Okay. Gewonnen. Ich würde mich irgendwohin setzen und mir ein Frühstück servieren lassen. Frau Bremer schien ja ganz versessen darauf zu sein, mich zu bemuttern. Dann hatte sie ihren Willen und ich meine Ruhe. Danach konnte ich endlich verschwinden. Nele hatte sicher schon ihre liebe Not. Und Hans? Die Gedanken an ihn und meine Kinder hatte ich bislang immer schnell verdrängen können. Aus gutem Grund. Sie waren mir zu gefährlich. Einmal angefangen, in diese Richtung zu denken, ließ sich der Fluss schlecht stoppen. Ob sie nach Hause gekommen waren? Hans müsste mich doch längst vermissen und suchen. Ich hatte keine Nachricht für ihn hinterlassen. Wie auch! Immerhin war ich nicht freiwillig hierher gekommen. Die nächtliche Szenerie tauchte wieder vor meinem geistigen Auge auf, und eine dumpfe Angst griff nach mir. Ich zwang sie zurück. Ich durfte ihr keine Macht geben. Sonst konnte ich überhaupt keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Ich ließ noch einmal meinen Blick über die anwesenden Senioren gleiten. Ein alter Mann erwiderte ihn und winkte mir freudig lächelnd zu. Ich sollte mich augenscheinlich zu ihm setzen. Nein, danke. Das würde ich nicht aushalten. Seine Senilität sprang mir ja schon aus der Entfernung entgegen. Er würde mich gnadenlos zutexten.
Da entdeckte ich sie. Magdalene. Ihren Namen kannte ich zu dem Zeitpunkt natürlich noch nicht.
Magdalene fiel mir auf, weil sie als Einzige in dem Raum wie ein Gast wirkte. Wie eine, die ebenfalls nicht hierher gehörte. Besser kann ich auch im Nachhinein die Anziehungskraft nicht erklären. Ihr Gesicht hatte noch Konturen und wirkte klar. Ihr schneeweißes, halblanges Haar glänzte und war tadellos geföhnt. Sie trug eine elegante Bluse und – sie schien sich absolut nicht für mich zu interessieren.
»Ich setze mich zu der Dame«, erklärte ich Frau Bremer.
»Gut, dann machen Sie sich ruhig selbst bekannt«, ermutigte sie mich.
Ich ging los. Dabei spürte ich Frau Bremers beobachtenden Blick im Rücken. Für einen Augenblick fühlte ich mich Jahrzehnte zurückversetzt. Ich war 13. Wir machten wie immer Urlaub in Dänemark. Mama, Steve und Lena. Ich lag viel auf dem Bett und träumte. Mama glaubte, ich würde trübsinnig. Aber ich wollte einfach nur für mich sein. Sollte Mama sich mit ihrer Familie amüsieren und mich in Ruhe lassen. Tat sie aber nicht. In einem Ferienhaus in der Nachbarschaft zog ein Ehepaar mit einer Tochter in meinem Alter ein, und Mama ließ nicht locker, bis ich sie ansprach. Sie hieß Laura und war begeistert, jemanden
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