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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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selbstverständlich bei ihr unter. Wir mussten ein groteskes Bild abgegeben haben. Sie mit ihrer kleinen, beigen Handtasche. Elegant gekleidet, ganz Dame. Ich in einer Altfrauensommerhose mit Gummizug und dieser lächerlich geblümten Bluse. In der Hand meinen Kinderkoffer.
    Wir schlenderten an einer Sitzgruppe vorbei. Auf einem Sofa saß eine alte Frau. Der Kopf war ihr auf die Brust gesunken. Sie schlief. Neben ihr waren mehrere Puppen aufgereiht. Eine andere Frau saß am Tisch und legte Karten. Als wir in ihre Nähe kamen, hielt sie die Karten mit beiden Händen zu und warf uns einen giftigen Blick zu. Wir gingen weiter. Jemand spielte Gitarre, und es wurde gesungen. Total disharmonisch, aber das Lied war trotzdem herauszuhören. »Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten …«
    Dann kam der schräge Chor in Sichtweite. Sechs oder acht alte Frauen und ein Mann saßen im Kreis mit einem jungen Mädchen, das Gitarre spielte. Gerade wurde das nächste Lied angestimmt. »Freut euch des Lebens, Großmutter wird mit der Sense rasiert. Alles vergebens – sie war nicht einschamponiert!« Die Truppe lachte herzhaft über den verwegenen Text. Die Gitarrenspielerin hatte uns entdeckt.
    »Frau Werner und Frau …«
    »Meinberg«, ergänzte ich mechanisch.
    »Wollen Sie sich nicht zu uns setzen? Wir können noch Verstärkung gebrauchen.«
    »Nein, wir wollen spazieren gehen«, schlug Magdalene freundlich die Einladung aus. Die junge Frau nickte und stimmte mit der Gitarre das nächste Lied an.
    »Heile, heile Gänschen, es wird schon wieder gut. Die Katze hat ein Schwänzchen, es wird schon wieder gut. Heile, heile Mäusespeck, in 100 Jahr’n ist alles weg.«
    »Das hoffe ich mal!«, hörten wir eine der Alten lauthals rufen.
    Noch eine Tür und noch ein Flur. Mich überkamen erste Zweifel, jemals den Ausgang zu finden, da lag er vor uns. Eine breite Glastür. Die Grünanlagen dahinter erschienen mir geradezu paradiesisch. Magdalene drückte auf einen Knopf, und die Glasfront öffnete sich. In dem Augenblick stand wie aus der Erde gewachsen der junge Pfleger vom Frühstück neben uns. Ich blieb stehen und dachte: Obermist! Schon wieder der Wachhund. Aber er lächelte uns im Vorbeigehen nur wohlwollend zu: »Immer unterwegs. Immer mobil bleiben.«
    »Ja, wer rastet, der rostet«, bestätigte Magdalene und zog mich energisch weiter. Wir passierten die offene Tür. Ich konnte es kaum fassen. Wir waren wirklich draußen. Ich schaute mich sicherheitshalber noch einmal um. Niemand folgte uns. Meine Aufmerksamkeit wurde auf ein Schild über dem Eingang gelenkt. Ein riesiges, hellgrünes. Auf dem stand in leuchtend roten Buchstaben geschrieben: »Achtung! Sie betreten eine andere Erlebniswelt.«
    Eine andere Erlebniswelt! Mich durchströmte eine irrsinnige Hoffnung. Ich hatte diese andere Welt gerade verlassen. Vielleicht war damit der ganze Wahnsinn beendet und ich …
    »Wie sehe ich aus?« Meine Stimme zitterte vor Erregung. Magdalene sah mich stirnrunzelnd an. »Nicht anders als vor fünf Minuten.« Sie betrachtete mich eindringlicher. »Ihre Wangen sind gerötet. Sind Sie nervös? Kommen Sie, Sie brauchen keine Angst zu haben.«
    Keine Angst, wiederholte ich in Gedanken. Hab keine Angst. Aber ich hatte welche. Ich beschleunigte meine Schritte. Bloß weg, bevor die im Haus Lunte rochen. Magdalene hielt mich am Ärmel fest.
    »Langsam. In der Ruhe liegt die Kraft.«
    Schon wieder so ein Spruch. Magdalene redete wie meine Mutter und sie strahlte auch deren unerschütterliche Gelassenheit aus. Dabei hatte sie mir gerade noch erzählt, sie wäre ebenfalls nicht freiwillig hier. Immerhin müsste sie auch stark daran interessiert sein, so schnell wie möglich dieses Terrain zu verlassen. Wir hatten freie Bahn und sollten keine Zeit mit unnötiger Trödelei verlieren.
    Wieso konnte sie so ruhig bleiben? Weil man die idyllisch angelegten Parkanlagen gar nicht verlassen kann und Magdalene mich im Kreis herumführt, zischelte mir eine aufrührerische Stimme zu. Unsinn. Ich atmete tief durch und passte mich Magdalenes Geschwindigkeit an, obwohl mich diese lahme Gangart kribbelig machte. Schon immer.
    Wir gingen an hochgewachsenen Rhododendronbüschen vorbei. Einen gefühlten Kilometer, bis wir freien Blick auf das Ausgangstor hatten. Es stand weit geöffnet. Ich musste auf die Haltung meines Unterkiefers achten, denn ich hatte Magdalenes Fluchtaktion nicht mehr getraut.
    Sie registrierte mein Erstaunen und lächelte: »Ich habe Ihnen

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