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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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doch gesagt, wir sind nicht eingesperrt. Aber von jetzt an müssen wir sehr vorsichtig sein.«
    »Warum sind Sie dann nicht schon lange weggegangen?«, fragte ich und dachte: Vielleicht versucht sie jeden Tag abzuhauen. Jeder weiß das. Nur ich nicht. Und ich Doofe latsche brav mit und mache mich damit noch unglaubwürdiger.
    »Ich war zu traurig und hätte am liebsten nicht mehr zurückgeschaut. Die Erinnerung tat einfach zu weh«, sagte Magdalene. Sie sah mich von der Seite an. »Jetzt weiß ich, dass ich mich ausruhen sollte und nur auf den richtigen Zeitpunkt warten musste.«
    Der richtige Zeitpunkt. Wieder so eins von Mamas Lieblingsschlagwörtern.
    »Kennen Sie etwa meine Mutter?«
    »Nein, die kenne ich nicht. Aber ich kenne Lilly.«
    »Lilly?«, echote ich fassungslos. »Sie kennen Lilly? Meinen Sie wirklich die gleiche wie ich? Das kann doch gar nicht sein.«
    »Mit Sicherheit. Es gibt nur eine Lilly mit diesen magischen Fähigkeiten.«
    »Das heißt: Sie glauben mir?«
    »Ehrlich gesagt, es ist schon eine sehr verrückte Geschichte, von einem Augenblick zum anderen über 40 Jahre älter gezaubert worden zu sein. Aber wenn es die Wahrheit ist, dann würde ich es nur Lilly zutrauen. Mein Mann hat viel von ihr und ihrer ungewöhnlichen Begabung gehalten.«
    Ich konnte Magdalene nur ungläubig anstarren.
    »Und weil es hier um meinen Mann geht, sind Sie für mich das Zeichen. Ich soll jetzt losziehen. Es wird Zeit, mich zu wehren«, verkündete sie mit tiefem Ernst.
    Dann zückte sie entschlossen ihr Handy und bestellte uns ein Taxi. Bevor ich eingreifen konnte, hatte sie es direkt vor das ›Domizil am See‹ geordert. Wie leichtsinnig. In der Zentrale würden sie sich an uns erinnern und sofort im Heim anrufen und auf uns Flüchtlinge aufmerksam machen.
    »Ich habe ein anderes Taxiunternehmen gewählt«, erklärte Magdalene ungefragt. Das beruhigte mich nur mäßig. Immer wieder blickte ich nervös in den Park zurück. Ich rechnete jeden Augenblick damit, dass ein Betreuer oder sogar Frau Bremer auftauchte und unseren kleinen Ausflug beendete. Wahrscheinlich gehörte es zum gepflegten Hausleitbild, die Bewohner an der langen Leine zu halten. Ich musste an diese fingierten Bushaltestellen denken, die manchmal innerhalb der Wohnanlagen für Senioren aufgebaut waren. Dort saßen die Alten geduldig mit ihrer Tasche und warteten. Ohne Erfolg. Der Bus würde niemals kommen. Das sollte die Weglauftendenz beruhigen. Pah! Mich würde so eine Verarschung nur wütend machen.
    Aber unser Taxi kam wirklich. Als ich mich in die Polster fallen ließ, fühlte ich mich wie erschlagen. Magdalene dagegen war die Ruhe selbst. Sie setzte sich neben mich auf den Rücksitz.
    »Wo soll’s denn hingehen, meine Damen?«, fragte der Taxifahrer. Der Mann war ungefähr so alt wie ich. Nein, korrigierte ich mich zögernd. So alt, wie ich gestern war.
    Er hatte sich leutselig lächelnd zu uns herumgedreht.
    »Zur Laubenkolonie am See«, sagte Magdalene. Mir wurde heiß, als der Fahrer bedauernd sein Gesicht verzog.
    »Da sind wir ein paar Jährchen zu spät dran. Die Laubenkolonie war einmal. Sie meinen sicherlich ›Schöner Wohnen am See‹?«
    »Nein, nein! Das meinen wir nicht. Wir wollen zum Vehrenkamp 25«, mischte ich mich hastig ein. Ich befürchtete, dass der Mann Skrupel bekam, uns zu chauffieren, und wir von ihm persönlich wieder im Domizil abgeliefert würden.
    »Sehr wohl, die Damen. Ein wenig shoppen, nicht wahr?« Er zwinkerte uns zu. Ich deutete so was wie ein bejahendes Lächeln an. Shoppen. Im Vehrenkamp gab es weit und breit keine Möglichkeit dafür. Ich hoffte viel mehr, dort meine Praxisräume vorzufinden.
    Das Wichtigste: Er fuhr erst mal los. Ich schloss für einen Augenblick die Augen. Ruhe. Ich musste zur Ruhe kommen, um meinen Verstand gebrauchen zu können. Er hatte mir bislang immer weitergeholfen.
    Aber wie sollte ich ein sachliches Gedankengerüst aufbauen, wenn seine Grundlage ein Zauberspruch war. Ich stöhnte leise auf. Magdalene streichelte mir über den Arm. Die Berührung tat gut. Ich lehnte mich ihr entgegen, und Magdalene ließ ihre Hand leicht wie eine Feder auf meinem Handrücken liegen.
    Okay, Michelle, du siehst also aus wie eine 80-Jährige. Vier Jahrzehnte sind an dir vorbeigezogen. Ohne eine Erinnerung. Demzufolge muss ich mich in der Zukunft befinden. Ich öffnete die Augen und sah aus dem Seitenfenster. Häuser, Schilder, Wagentypen, selbst die Werbung für Hundefutter waren mir vertraut.

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