HABE MUTTER, BRAUCHE VATER - Mallery, S: HABE MUTTER, BRAUCHE VATER
kann, hinter sich lässt. Er hatte es ja auch gewusst – vor Bens Tod. Der Junge war ihm ans Herz gewachsen, und er hatte sich geschworen, dass er ihn beschützen und vor dem Tod bewahren würde. Er hatte versagt.
Ein zweites Mal würde er nicht versagen.
„Ich war viel unterwegs“, sagte Reid und ärgerte sich sofort über sich selbst, weil er sich überhaupt die Mühe machte, jemandem etwas zu erklären, den es ohnehin nicht interessierte.
Lori Johnston stand in Glorias großer Bibliothek und schaute ihn ausdruckslos an. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“
Natürlich hat sie das nicht, dachte er gereizt. Sie hatte sich ein Urteil über ihn gebildet und ihn in eine Schublade gesteckt. Genauso hätte auch er ihre erste Begegnung abhaken und vergessen sollen. Doch es war ihm nicht gelungen. Wo er auch war und was er auch tat, Loris Bemerkung, er habe seine Großmutter vernachlässigt, und dies sei der Grund für deren schwierige Art, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
„Sie mag Menschen nicht“, sagte er.
„Wer?“, fragte Lori in einem Ton, mit dem man üblicherweise mit geistig Behinderten redet.
„Meine Großmutter. Sie ist kein umgänglicher Mensch.“
„Ich habe sie noch nicht kennengelernt“, sagte Lori. Es war offensichtlich, dass sie die Unterhaltung nicht das geringste bisschen interessierte. „Aber ich bin überzeugt, dass sie eine reizende alte Dame ist.“
„Das ist sie nicht. Sie ist ein schwieriger und extrem dominanter Mensch. Sie hat ihre Enkelkinder beschatten lassen. Walker hat die Protokolle gesehen. Sie hat allen Ernstes Privatdetektive beauftragt, uns nachzuspionieren.“
Lori sah ihn mit ihrem kühlen Blick durchdringend an. „Wenn Sie am Wohlergehen Ihrer Großmutter mehr Interesse gezeigt hätten als an Ihrem eigenen, hätte sie vielleicht nicht so drastische Maßnahmen ergreifen müssen.“
„Müssen? Niemand hat sie dazu gezwungen. Sie macht das alles aus freien Stücken – und wissen Sie, warum?“
„Weil sie einsam ist und Sie und Ihre Geschwister keine Zeit für sie haben, obwohl sie die einzigen Verwandten sind, die sie hat?“
Am liebsten hätte Reid auf etwas eingeprügelt oder jemanden erwürgt. Sein Blick wanderte zu Loris Hals.
„Sie haben die Frau nicht einmal gesehen. Warum ergreifen Sie ihre Partei?“
„Meine Erfahrung ist, dass alte Menschen oft im Stich gelassen oder zumindest vernachlässigt werden. Sie selbst haben eben gesagt, dass Sie viel unterwegs waren und somit keine Zeit hatten. Was sagt das über die Beziehung zu Ihrer Großmutter aus?“
„Ich habe Baseball gespielt. Natürlich war ich viel unterwegs. Das gehört zum Job.“
„Während der Spielsaison, ja“, sagte Lori. „Wie lange dauert die? Fünf oder sechs Monate, nicht wahr? Was war mit dem Rest des Jahres?“ Sie ging zu dem großen Fenster und zog die Vorhänge auf. Das Sonnenlicht fiel auf den Parkettboden. „Sie versuchen mich von etwas zu überzeugen, Mr. Buchanan, aber ich kann nicht erkennen, wovon. Ich rate Ihnen, lassen Sie es gut sein. Im Ernst, Mr. Buchanan, damit ich meine Arbeit erledigen kann, müssen wir beide uns doch nur auf einer rein sachlichen Ebene verständigen. Wir werden uns ja vermutlich nicht oft sehen.“
Er hatte ihre spitze Bemerkung sehr wohl verstanden. Sie ging jetzt schon davon aus, dass er Gloria nicht besuchen würde. Diese Sache ist einfach nur ärgerlich, dachte er. Er hätte ihr gern gesagt, dass er der einzige Enkel war, der sich bereit erklärt hatte, sich um die ambulante Pflege seiner Großmutter zu kümmern. Und dass er drei Mal bei ihr im Krankenhaus gewesen war und sie sehr wohl außerhalb der Spielsaison besucht hatte.
Doch ehe er es Lori erklären konnte, begann sie wieder zu reden. „Ich glaube, dieser Raum ist bestens geeignet“, sagte sie. „Man müsste nur den Schreibtisch und diese beiden Sessel entfernen lassen. Der Lehnstuhl kann bleiben, und der Teppich ist auch in Ordnung. Das Krankenhausbett wird morgen geliefert. Ich habe mich vorhin vergewissert, dass der Liefertermin eingehalten wird. Jemand wird doch hier sein und die Leute hereinlassen?“
Es klang wie eine Frage, aber Reid wusste, dass es ein Befehl war. Jemand musste hier sein, wenn die Lieferung kam.
„Das habe ich organisiert, ja.“
„Gut.“ Sie nahm ihre Handtasche. „Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Mr. Buchanan. Ich habe mit der Ärztin geredet, und sie meint, Ihre Großmutter darf wahrscheinlich in ungefähr einer Woche
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