HABE MUTTER, BRAUCHE VATER - Mallery, S: HABE MUTTER, BRAUCHE VATER
erfahre, was er damals getan hat, und es wiedergutmachen. Als ich erfuhr, dass ihr mich nicht verstoßen habt, wollte ich sofort mit euch Kontakt aufnehmen.“
„Wir würden dich nie verstoßen“, sagte ihre Mutter. „Elissa, du bist unsere Tochter, und wir lieben dich. Wir werden dich immer lieben, egal, was passiert.“
Würden sie das wirklich? Und liebten sie sie wirklich? Warum hatte dann ihr Bruder sie suchen lassen – und nicht ihre Eltern? In L.A. wäre sie tatsächlich schwer aufzuspüren gewesen, aber in Seattle hatte sie doch seit geraumer Zeit einen Job, eine Wohnung und eine Kreditkarte. So schwer wäre sie nicht zu finden gewesen. Neil gelang es doch auch immer wieder. Warum hätte es für ihre Eltern unmöglich sein sollen?
Sie wusste, dass sie selbst niemals aufhören würde, nach Zoe zu suchen, falls ihr etwas zustieße. Warum also hatten ihre Eltern sich anders verhalten?
Den restlichen Nachmittag saß Elissa zu Hause über ihren Schmuckarbeiten und dachte über das Treffen mit ihren Eltern nach. Obwohl die beiden nichts Falsches gesagt und auch Interesse gezeigt hatten, Zoe kennenzulernen, hatte Elissa ein komisches Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht.
Vielleicht lag es ja an ihr selbst. Vielleicht waren ihre Vorstellungen, mit denen sie sich ihre Heimkehr ausgemalt hatte, so von dem Bild der perfekten Familien aus dem Fernsehen beeinflusst, dass sie mit der Realität nicht umgehen konnte. Vielleicht hatte sie sich einfach Illusionen gemacht.
Sie brauchte eine unabhängige Meinung. Also wartete sie, bis Zoe eingeschlafen war, und ging dann hinauf zu Walker.
Als er die Tür öffnete, sagte sie: „Da ich annehme, dass wir Freunde sind, und ich gerade jemanden zum Reden brauche, wirst du dieser Mensch sein und dir alles anhören müssen. Ist das ein Problem für dich?“
Er sah sie ein paar Sekunden schmunzelnd an. „Soll ich etwas Hochprozentiges mitbringen?“, fragte er dann.
„Klar – wenn du etwas vorrätig hast.“
„Ich bin gleich unten.“
Nach weniger als einer Minute stand er mit zwei Flaschen vor ihrer Tür. Wodka und Tonic, fand Elissa, waren ein beinahe ebenso erfreulicher Anblick wie Walker selbst in seinen ausgewaschenen Jeans und dem weiten T-Shirt. Gegen diese gelungene Kombination aus erfreulichem Augenschmaus und der Aussicht auf einen Drink war nun wirklich nichts einzuwenden.
„Hast du Eis da?“, fragte er.
„Immer. Ich habe sogar eine Limone.“
Sie gingen in die Küche. Elissa holte Eiswürfel, zwei Gläser und die Limone, die als nacktes kleines Früchtchen in der Obstschale lag.
„Ich habe die Schale vorhin gebraucht“, erklärte sie, während sie die Limone in Achtel schnitt. „Wir hatten Tacos auf karibische Art.“
Er schenkte ein, und sie drückte die Limonenstückchen aus. Dann prosteten sie einander wortlos zu. Elissa seufzte genüsslich, als sie den ersten Schluck des kalten, säuerlichen Drinks probiert hatte.
„Perfekt.“
Er ging vor ins Wohnzimmer. „Was ist passiert?“, fragte er, nachdem sie es sich beide auf der Couch gemütlich gemacht hatten.
Sie nahm noch einen Schluck. „Ich war heute meine Eltern besuchen. Es war merkwürdig. So als wäre ich in eine Zeitschleife geraten. Es war alles fast wie damals – und doch anders. Ich habe mich nicht wohlgefühlt und war wütend und verwirrt. Meine Mutter hat sich verändert. Sie ist psychisch labiler als früher. Mein Dad hat mir Vorwürfe gemacht. Ich hatte mir meine Heimkehr als großes Freudenfest vorgestellt, aber sie haben mich bloß mit Fragen bombardiert.“
„In gewisser Weise ist es leichter, wenn man niemandem mehr Antworten schuldig ist“, sagte er. „Aber nun bist du wieder Teil ihres Lebens. Es wird Erklärungsversuche und Missverständnisse geben. Keiner von euch ist mehr wie früher.“
„Das ist mir klar. Die Zeit ist nicht stehen geblieben. Aber ich habe das Gefühl, als wäre alles meine Schuld. Ich bin diejenige, die damals abgehauen ist und damit alle Veränderungen ausgelöst hat.“
„Du kannst nichts dafür.“
„Ach ja?“ Sie hielt ihr Glas mit beiden Händen fest. „Ich glaube, meine Mutter hatte einen Nervenzusammenbruch oder so etwas Ähnliches. Das ist meine Schuld.“
„Nein, ist es nicht. Sie bestimmt, wie sie mit Situationen umgeht.“
„Ist das nicht das Gleiche, als würde man sagen: Wenn ich Menschen mit dem Auto überfahre, sind sie an ihren Verletzungen selbst schuld, weil sie nicht schnell genug aus dem Weg gesprungen
Weitere Kostenlose Bücher