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Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition)

Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition)

Titel: Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Sträter
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mir mein Essen nur, wenn ich darum bitte. A u ßerdem bist du mein Gast. Ich bin kein gewöhnlicher Bewo h ner.«
    Der Gedanke war mir allerdings auch schon gekommen.
    Sieben Zigarettenstummel lagen nun in dem Gefäß aus grünem Marmor; trotzdem war es mir unmöglich, abzuschätzen, wie lange wir schon redeten.
    »Ich müsste mal austreten«, sagte ich.
    Er legte den Kopf schräg. »Aus der Kirche?«
    Ich kicherte. »Weniger. Ich muss pinkeln.«
    »Meine Toilette kannst du leider nicht benutzen, aber auf dem Gang ist eine. Die ist auch ziemlich sauber. Die wenigsten ve r lassen ihr Bett, um zum Klo zu gehen.«
    »Nicht auf dieser Station«, sagte ich.
    »Nicht auf dieser Station«, bestätigte er ernst.
     
    Ich schlüpfte auf den Gang.
    Von irgendwo her hörte ich das Klirren von Geschirr, aber ich sah keine Menschenseele.
    Dann warf ich einen Blick auf das Namenschild vor dem Zimmer meines Gastgebers.
    C 32: Victor Wallmann.
    »Wallmann«, sagte ich laut in den leeren Flur.
    Ich schüttelte den Kopf und ging rüber zu den Toiletten
    Der Alte hatte recht gehabt: die Einrichtungen waren nicht nur sauber , sie wirkten wie ein sanitärer Showroom.
     
    »Sie hatten recht. Extrem gepflegt.«
    Er nickte.
    »Hygiene ist wichtig, mein Junge. Man ahnt nicht, wie.«
    Ich nickte einige Sekunden mit; dann sah ich, wie die Augen des Mannes sich verdunkelten.
    »Wo waren wir?«
    »Der Soldat«, sagte ich.
     
    »Wenig später kam eine Kutsche. Sie rumpelte über das Kop f steinpflaster des Hafens, und ich sah wilde Gesellen auf dem Bock: Zigeuner.
    Sie trugen Pluderhosen und bestickte Westen, und sie sprachen kein Wort, kamen aber an Bord. Unser Kapitän trat auf sie zu, aber sehr vorsichtig; wir waren in einem fremden Hafen und diese Leute schienen wirklich wild zu sein. Man sah es daran, wie sie ihre Pferde behandelten. Die Gäule vor der Kutsche waren mit Schaum bedeckt und schweißnass.
    Einer der Männer, ein junger Kerl mit olivfarbener Haut und geflochtenen, langen Haaren überreichte dem Kapitän ein K u vert und einen kleinen, groben Wildlederbeutel.
    Der Soldat war neben mich getreten. Seine unversehrte Hand ruhte auf dem Griff seines Säbels, aber er schwieg; genau wie ich wollte er wahrscheinlich keinen Keim für Aggression pfla n zen, indem er etwas sagte, was die Zigeuner nicht verstanden.
    Ich beobachtete, wie einige Männer eine große, längliche Kiste von der Kutsche hoben, während der Kapitän das Siegel des Kuverts brach und las.
    Dann pfiff er leise durch die Zähne.
    ›Eine Kiste nach Hause‹, sagte er, ›wie passend.‹
    Er öffnete den Beutel; einige Goldstücke fielen auf seine Han d fläche.
    ›Sehr passend‹, fügte er hinzu, ›wirklich s ehr, sehr passend.‹
     
    Noch zwei Zigaretten.
    Er schaute mich mit einem Blick gespielten Bedauerns an.
    »Könnte reichen.«
     
    »In der Nacht begann es. Der Wellengang war mörderisch, mein Junge. Das Meer war schwarz wie die Nacht selbst und kein Stern am Himmel; ich hatte Dienst an Deck, und stelle n weise wusste ich nicht, was Oben und Unten ist.
    Dann hörte ich das Krachen.
    Es klang, als würde Holz bersten – nein, nicht bersten: Expl o dieren.
    Ich würde gern sagen, dass ich mich wunderte, dass ich dachte, die Kiste wäre bei diesem schweren Seegang zerbrochen oder etwas wäre darauf gestürzt.
    Nein.
    Ich hörte die Schritte, aus dem Laderaum, Schritte, die lauter wurden.
    Weil sie zu mir nach oben kamen.
    Ich wusste, wer da zu mir hinauf kam; ich wusste es seit der Nacht davor.«
     
    Er stöhnte leise auf, lächelte aber dabei.
    »Schuld, mein Junge. Ist Schuld messbar?«
    »Sicher«, sagte ich, »denke schon.«
    »Aber kann man Schuld mit der Anzahl verstrichener Jahre dividieren?«
    Ich hörte an seinem Tonfall, dass dies keine rethorische Frage war. Wie oft hatte er sich das gefragt, während er in seinem Zimmer lag, das Kopfende elektronisch bequem eingestellt, während er auf die Tapete starrte.
    »Wie viel wiegt Schuld?«
    Ich sah ihn ernst an. »Tonnen.«
     
    »Er kam die Treppe hinauf, und er brachte den Gestank von totem Fleisch und Erde mit. Ich stand wie angeschraubt an der Reling und war unfähig, mich zu bewegen.
    Er war nichts als ein schwarzer Schatten im Türrahmen; eine verwachsene, dürre Silhouette; und doch wusste ich, dass er mich betrachtete. Dann trat er ins Mondlicht.
    Sein Mantel war voller Erde; er redete zu mir, und meine Blase versagte ihren Dienst. Ich hörte es trotz des tosenden Windes auf meine Schuhe

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