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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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… bekommt sie ihr Futter … regelmäßig ihr Futter?«
    »Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Kreiling, ich kümmere mich um Ihre Ziege. Jetzt ist Zeit für Ihr Mittagsschläfchen.«
    Die große Frau hob die alte Dame aus dem Rollstuhl, trug sie zum Bett hinüber und legte sie darauf ab. Nachdem sie sie zugedeckt hatte, trat sie ans Fenster. Von der gelblichen Gardine geschützt, spähte sie hinaus. Die nächsten Häuser standen nicht weit entfernt, und irgendwo jenseits der Hügel, die sich sanft hinter diesen Häusern erhoben, lag der Schneiderhof.
     
    Anna Schneider saß tief über den Schreibtisch gebeugt im Büro ihres Mannes. Die Lampe mit dem grünen Schirm
warf einen zerfließenden Lichtschein auf die große Platte aus Eichenholz, eine kleine, leuchtende Insel in einem Meer aus stiller Dunkelheit. Anna trug ihre Lesebrille. Vor ihr lag ein schwarzer Aktenordner. Er war alt und abgestoßen, die Deckel verbogen. Dieser Ordner hatte niemals sauber und ordentlich in einem Regal gestanden. Seit mehr als zwanzig Jahren lag er unter alten Leinen versteckt in einem Karton, der Karton ebenfalls versteckt in einer Nische auf dem Dachboden. Dort hätte er alle Zeiten überdauern sollen, denn was er enthielt, hatten Edgar und sie versucht, dem Vergessen zu überantworten. Dass ihr dies jedoch niemals würde gelingen können, hatte Anna verstanden, als sie den Karton, ohne suchen zu müssen, auf Anhieb gefunden hatte.
    Die Papiere waren allesamt vorhanden. Vergilbt zwar, und manche von ihnen fühlten sich bereits an wie brüchiges Pergament, doch die Worte darauf hatten sich in den letzten zwei Jahrzehnten nicht geändert. Anna fuhr mit dem Zeigefinger über eine ihrer Unterschriften. Als sie diesen Stift geführt hatte, war sie dreißig Jahre jung gewesen. Daneben hatte sich Edgar verewigt. Schon damals hatte seine Unterschrift viel mehr Raum eingenommen als ihre. So viel Zeit war so unglaublich schnell vergangen, trotzdem stellte Anna nun fest, dass nichts vergessen war. Verdrängt, verschüttet, eingestaubt, ja, natürlich, aber nicht vergessen. Dieser Moment war wie eine Zeitreise. Wie beim Betrachten eines Films konnte sie verschiedene Szenen vor ihrem geistigen Auge sehen. Es war ein langer und harter Kampf gewesen, den sie ohne Edgar weder durchgestanden noch gewonnen hätte.
    Die Tür zum Büro wurde geöffnet.
    Anna klappte rasch den Deckel des Ordners zu und richtete
sich auf. Mit dem Lichtschimmer der kleinen Stehlampe auf dem Flur erschien ihr Mann im Türrahmen. Noch ehe er den Raum betrat, roch sie sein Rasierwasser und den feinen Limonenduft des Duschgels. Sein weißes Haar war noch feucht und darum eine Nuance dunkler als sonst. Er trug Bademantel und Hausschuhe.
    »Was machst du hier?«, fragte er.
    »Schließ die Tür«, sagte Anna leise.
    Edgar drückte sie sacht und geräuschlos ins Schloss, dann kam er zum Schreibtisch. Er beugte sich hinunter und küsste ihr Haar in der Nähe des Scheitels. Anna spürte die Wärme der Dusche. Sie legte ihren Kopf an seine Hüfte.
    »Schläft Sebastian?«
    »Ich denke schon. Ich habe eben nichts mehr gehört. Er war ja auch ziemlich erschöpft, und wenn so ein Schock erst mal nachlässt, schläft man wie ein Murmeltier im Winter.«
    »Ich bin so froh, dass ihm bei dem Unfall nichts passiert ist.«
    »Ich auch, und er wohl am allermeisten. Aber warum sitzt du hier? Und was siehst du dir an?«
    Anna beließ ihre Hände noch auf dem Ordnerdeckel.
    »Während der Fahrt ins Krankenhaus ist mir so viel durch den Kopf gegangen. Ich musste immer wieder daran denken, wie schnell ein Leben enden kann … und auch, dass wir beide nicht mehr alle Zeit der Welt haben. Weißt du, man lebt und arbeitet so vor sich hin, schaut kaum einmal nach rechts oder links und merkt gar nicht, wie der Sand im oberen Teil der Uhr immer weniger wird. Irgendwann ist man dann völlig überrascht, wenn man nach unten rutscht. Vielleicht ist so ein Unfall auch dazu gut, um
mal wieder innezuhalten, nachzudenken und eventuell alte Entscheidungen zu überdenken.«
    Edgar runzelte die Stirn und sah seine Frau verständnislos an. Dann jedoch klärten sich seine Gesichtszüge – bevor sich erneut ein Schatten darüberlegte.
    »Anna, was siehst du dir an?«
    Weil der Klang seiner Stimme unmissverständlich war, nahm Anna ihre Hände von dem Aktenordner. »Erinnerst du dich noch?«
    Ein Flüstern wie der Flügelschlag eines Nachtfalters.
    Edgar musste nur einen kurzen Blick darauf werfen, um zu erkennen,

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