Härtling, Peter
er, dann wieder schleicht er, als sei er ein alter Mann. Die Leute kennen ihn alle, den Buben vom Gok, vom Bürgermeister.
Er ist zierlich, fast schmächtig. Später wird man ihm breite Schultern attestieren.
Er hat braune Augen, braunes Haar.
Seine Stirn ist hoch und gerade.
Die Unterlippe aufgeworfen.
Und die Kerbe im kräftigen Kinn malt jeder.
Ich denke mir, daß er blaß war, eine feine wächserne Haut hatte, im Gegensatz zu den anderen Buben.
Aber ich will ihn nicht verzärteln.
Paß auf deinen Anzug auf! hat ihm die Großmutter Heyn nachgerufen.
Er ist sehr säuberlich, doch er vergißt sich im Spiel, rasch sind Grasflecke an Weste und Kniehose. Die Schnallenschuhe und die wollenen Strümpfe zieht er aus. Er schlägt mit einem Stecken die hohen Halme, verbirgt sich hinter einer Uferweide, ruft wie ein Totenvogel, was die Rike ängstlich macht. Sei schtill, bleib hocke, i ben ja do.
Er ist da, erzählt Geschichten, legt sich auf den Rücken, phantasiert Wolkenfiguren, mitunter ist es so spannend, daß die kleine Schwester eine Weile zuhört. So liegt er oft. Erst sieht er nur den Himmel, dann »das Gebirg«, den Albtrauf, den Jusi, den Neuffen und die Teck, dann die Stadt, die Kirche auf dem Fels, darunter die verrutschte Zeile der Häuser, das Neckartor, die Brücke: von dort ist er gekommen.
An diese Tage wird er sich erinnern, vor allem, wenn er heimkommt, ratlos, »ohne Geschäft«, und es wird nicht die Heldenerinnerung sein, »da ich ein Knabe war«, sondern der Drang »heimzugehn, wo bekannt blühende Wege mir sind, / Dort zu besuchen das Land und die schönen Tale des Neckars –.« »Törig red ich. Es ist die Freude.«
Die Freude? Etwas wiederzufinden, das sich erholt hat, eine Umgebung und Menschen, die sein Gedächtnis fassen kann, auch wenn es das Kind anders erlebte. Jedesmal kehrt er wirklich heim, wird aufgefangen, gepflegt und von niemandem gedrängt, ein anderer, größerer zu sein.
Die Mutter sitzt an einem der Fenster zur Neckarsteige, es ist fast ein Hochsitz, und schaut hinunter auf die Häuser an der Stadtmauer, aufs Neckartor. Es gefällt ihr, wie die Ochsenfuhrwerke sich den Buckel hinaufmühen müssen. Sie kann die Rufe der Bauern hören, das Knattern der Räder auf den Steinen. Oft sitzt ihre Mutter, die Großmutter Heyn, bei ihr. Eine Magd stößt den Fritz in die Stube, er ist erhitzt und betreten, doch seine Augen triumphieren. Er habe Maikäfer gesammelt und sie im Zimmer der Mägde losgelassen. Die seien vor Angst außer sich gewesen, und der Lausbub habe noch gejubelt. Die Großmutter will für einen Augenblick lachen, sie verbietet es sich, denn ihre Tochter bleibt ernst und tadelt den Buben: Du hast den merkwürdigsten Unfug im Kopf, kannst du es nicht bleiben lassen? Muß ich dich immer wieder schimpfen? Soll ich es dem Vater sagen? Er schüttelt den Kopf, erwidert: Sie dürfen mir nichts tun, es ist die Freude, ganz einfach die Freude.
Er freut sich auf den Maientag, den der Dekan Klemm zu einem Fest der Menschenfreundschaft und der Gottesliebe erklärt hat. Es wird Wecken, Most und süßen Apfelsaft geben, die Mädchen werden Reigen tanzen, der Dekan wird über die Nächstenliebe und die Gottesliebe reden, über die täglichen guten Werke, sie werden miteinander singen, sich an den Händen fassen, die größeren Buben auf den Maienbaum klettern und Gewinne aus dem Kranz reißen, sie werden auf den Neckarwiesen spielen, der Vater wird fortwährend Leute begrüßen, die Familie ihren »eigenen Tisch« haben und dort empfangen – bis in den Abend hinein, »noch ein halbes Stündchen, bitte«, und in der einbrechenden lauen Dunkelheit wird ihn die Magd oder die Großmutter nach Hause bringen.
Von seinem sechsten Jahr an besucht er die Lateinschule. Diesen Weg kann ich nachgehen, bin ich viele Male gegangen, so, wenn ich von der Marktstraße zur Neckarsteige wollte und durchs »Höfle« abkürzte. Viele Häuser von damals stehen nicht mehr, sogar der Verlauf der Gassen hat sich ein wenig verändert. Aber selbst auf einem Stadtplan von 1830 finde ich mich leicht zurecht.
Es ist früh, wenn er zur Schule muß. Die ersten Male haben ihn die Mutter oder eine Magd hingebracht, obwohl er sich zurechtgefunden hätte: I kann des alloi. Er muß nicht zur Neckarsteige hinunter, sondern er verläßt das Haus durch den Garten, durchs Hintertor. Ein Gäßchen führt zur Kirchstraße. Es ist verwinkelt, eng. Die Mauern geben, wenn es Nacht und still ist, die Schritte auf dem
Weitere Kostenlose Bücher