Härtling, Peter
Pflaster als Echo wider. In meiner Kindheit befand sich hier das Stadtgefängnis, das es zu seiner Zeit dort nicht gab. Es wird, nehme ich an, ein Bauernhaus gewesen sein. Schon von hier aus kann er die Stadtkirche sehen, Sankt Laurentius. Man wird ihm erzählt haben, daß noch vor dreißig, vierzig Jahren unmittelbar neben der Kirche das Schloß gestanden habe, ein riesiger Bau mit vier Erkertürmen an der Neckarsteige und einem schönen Innenhof. Es ist abgerissen worden. Über den freigewordenen Platz geht er. Man hat Kastanien und Linden gepflanzt. Die kenne ich auch. Für ihn sind es junge Bäume, die noch von Pfosten abgestützt werden. Die Schule steht in geringem Abstand längs zur Kirche, schon wieder am Rand des Felsens, so daß zur Marktstraße durch die Schule hindurch ein Treppenhaus geführt werden mußte. Die Schule ist neu. Sie ist erst vor neun Jahren gebaut worden. Neben ihr, in einer Flucht, die Vogtei und Kellerei (für mich ist es das Landratsamt)und die Stadtschreiberei (dort, im Amtsgericht, habe ich als junger Journalist Tage verbracht, um über Prozesse gegen kleine Diebe, Hehler, Landstreicher zu schreiben). Der Bezirk zwischen Schule und Kirche gefällt ihm. Hier ist es im Sommer kühl, hier kann man gut spielen.
Er ist ein braver Schüler. Er muß anderes lernen als ich. Schon mit sechs Jahren repetiert er griechische, lateinische, hebräische Vokabeln, und der Magister versucht, ihm Philosophie und Theologie beizubringen. Es ist ein unvorstellbares Pensum. Der Magister Kraz ist zufrieden mit ihm. Man weiß, er wird auf das Seminar gehen, danach aufs Stift. Er soll, so wünschen es seine Eltern, Pfarrer werden.
An den Nachmittagen bringt ihm der Diakon Nathanael Köstlin, der zweite Stadtpfarrer nach dem Dekan Klemm, weiteres bei, folgen die Privatstunden; Köstlin soll ihn aufs Landexamen vorbereiten. Erst hatte er sich vor dem Diakon gefürchtet. Er war vom Vater in die gute Stube gerufen worden, die Eltern saßen mit einem dicken Mann am runden Tisch, tranken Wein, der Vater winkte ihn heran. Er zögerte. Es schien ein feierlicher Augenblick zu sein. Du mußt keine Angst haben, es passiert dir nichts, sagt Köstlin. Die Mutter sagt, während der Junge langsam zum Tisch geht: Er ist eben ein bißchen scheu. Er setzt sich. Wartet. Gok nippt am Glas, sieht seinen Stiefsohn an. So kann der Junge ihn leiden. Hör her, sagt Gok. Viele seiner Sätze beginnen so. Er ist es gewöhnt, daß man auf ihn hört. Hör her, du gehst zwar auf die Lateinschule, und der Magister Kraz ist dir ein guter Lehrer, doch dafür, daß du auf das Tübinger Stift sollst, genügt es nicht. Verstehst du? Das Kind nickt. Es versteht nichts. Doch es ist besser, es versteht.
Zweimal in der Woche, am Dienstag und am Donnerstag, wird der Diakon zum Unterricht kommen. Damit sie ungestört arbeiten können, hat man ihnen eine Stube unterm Dach eingerichtet. Unser Olymp, sagt Köstlin. Betritt er das Haus, pflegt er erst Johanna seine Aufwartung zu machen, sie unterhalten sich über die Talente des Buben, über dessen Fortschritte, ihm wird ein Glas Rotwein eingeschenkt, das er in drei Zügen leert, dann wird der Junge gerufen, der bereits im Nebenzimmer wartet. Wir wollen nichts versäumen, sagt Köstlin, verbeugt sich vor Johanna und schiebt das Kind vor sich her.
Wenn es warm ist, steht das Fenster offen. Der Diakon spricht, liest vor, fragt ab. Stimmen aus dem Hof sind zu hören, sie lenken ihn nicht ab. Köstlin legt Worte Christi aus, er ist ein Bewunderer Bengels, mitunter wird er ekstatisch, dann reißt er seinen Schüler an sich, und Tränen stehen in seinen Augen.
Wer verbürgt uns die Gegenwart Gottes?
Jesus Christus.
Weshalb?
Er ist Gottes Unterpfand für die Menschen.
Er sagt: Gottes Unterpfand, und es fragt sich, ob er weiß, was er sagt, ob es nicht Wörter sind, die er auswendig gelernt hat, die Köstlin ihm abverlangt – oder er denkt darüber nach, was »Unterpfand« bedeutet, fragt womöglich den Diakon, als er dieses Wort zum erstenmal hört:
Was heißt des?
Köstlin, versessen auf Wörter, sie abschmeckend, mit ihnen allein glücklich, mogelt sich nicht hinaus, sondern antwortet: Ein Unterpfand ist einem Pfand gleich, nein, doch nicht, weißt du, sage ich Pfand, meine ich wirklich das Pfand, etwas, eine Sache, die für einen anderen Wertsteht, doch das Wort Unterpfand geht darüber hinaus, das braucht man als Gleichnis. Verstehsch, Büble, verstehsch, als Gleichnis, da ist gemeint ein
Weitere Kostenlose Bücher