Härtling, Peter
»sichtbares Zeichen«, ein »greifbarer Beweis«, und an diese zweite Bedeutung sollten wir uns halten. Das ist es, nur dies. Daß Jesus eben ein greifbarer Beweis für die Gegenwart Gottes ist.
Ja, sagt er, ja. Das Bild geht ihm ein, seine Faßbarkeit, und manchmal erregt es ihn, so den Wörtern auf die Spur zu kommen, ihre Seele zu erfahren und ihren Leib zu fassen.
Wenn Köstlin seine Phantasien nur nicht immer unterbräche und ihn dann das Schulpensum repetieren ließe. Ille, illa, illud.
Er gewinnt den schweren Mann lieb. Insgeheim vergleicht er ihn mit Gok, auch mit dem phantasierten Inbild des ersten Vaters, und die Vorstellungen mischen sich, die Väter werden übermächtig, schon wieder »Unterpfänder«, unwirklich in ihrer Größe und Güte, » Ihre immerwährende große Gewogenheit und Liebe gegen mich«, wird der Fünfzehnjährige aus Denkendorf an Köstlin schreiben, »und noch etwas, das auch nicht wenig dazu beigetragen haben mag, Ihr weiser Christen-Wandel, erweckten in mir eine solche Ehrfurcht und Liebe zu Ihnen , daß ich, es aufrichtig zu sagen, Sie nicht anders als wie meinen Vater betrachten kann.« Als wie welchen Vater? Den »Führer«, den »Helfer«, den »Freund«?
Er schreibt diese Zeilen fünf Jahre nach dem Tod des zweiten Vaters.
Er macht sich Vorwürfe, um seinem Helfer zu gefallen.
»Immer wankte ich hin und her.«
Wenn er klug sein wollte, sei sein Herz tückisch geworden.
Niemanden um sich habe er leiden können.
Habe er sich seiner Menschenfeindlichkeit widersetzt, so sei er nur darauf aus gewesen, den Menschen zu gefallen, nicht aber Gott.
Er ist neun. Ganz unvermutet kann ihn Wut überkommen, aus geringstem Anlaß: er bebt, ballt die Fäuste, alles spannt sich in ihm, in sein Gesicht schießt Blut – jetzt hat er sein Wütle, sagt die Großmutter Heyn, die ihn am ehesten in einem solchen Zustand noch erreichen kann. Ein Gehilfe in der Weinhandlung hatte ihn gehänselt, als er zwischen den Fässern spielte. So dünn wie er sei, ein solch feines Herrchen, werde er sein Lebtag kein Fäßchen wie dieses stemmen können. Und er habe dazu noch herausfordernd gelacht. Das Kind sei derart in Zorn geraten, daß es, ohne zu zaudern, auf den Mann losgegangen sei, ihn mit Fäusten traktiert und am Ende in die Hand gebissen habe. Der herbeigerufene Vater habe ihn verprügelt, was freilich zur Folge hatte, daß der Bub sich als verstockt erwies und trotz dringender Mahnung nicht zum Mittagstisch erschien.
Du bist anmaßend, sagt Köstlin.
Des stimmt net.
Du kannst dich nicht beherrschen und tust darum anderen unrecht.
Die tun mir unrecht, und dann kommt’s über mich.
Du mußt dich beherrschen lernen, Friedrich.
Er redete ihn als einziger mit Friedrich an.
I kann’s net.
Doch, das mußt du als rechter Christenmensch lernen.
I ben doch a Chrischt, aber des kann i net.
Weil du immer besser sein willst als die andern.
Noi, net besser, bloß anders.
Das könnte er Köstlin erwidert haben, schon wieder ohne Trotz, aus einer kindlichen Selbstsicherheit. Er weiß, daß er bei Köstlin so weit gehen kann. Er war ja nicht nur der »Helfer«, sondern auch ein Verschworener. Er vermittelte ihm ein Wissen, das ihn von allen anderen abhob, auch von dem zweiten Vater, und nur Köstlin empfand wie er. Ich denke mir, daß er, als er seine erste Hauslehrerstelle bei den Kalbs antrat, sich an Köstlin erinnerte, an seine »Weisungen«, seine freundschaftliche Strenge, und daß er ihn zu kopieren versuchte; daß vielleicht die kindliche Erfahrung mit diesem klugen Mann ihn zu diesem Beruf disponierte: Er wollte dem dritten allwissenden Vater gleichen.
Manchmal hatte ihn die Schule schon so ermüdet, daß er den Belehrungen Köstlins nicht mehr folgen konnte. Der quälte ihn nicht, sagte: Laß uns miteinander singen. Sie sangen eins der Streitlieder Zinzendorfs.
Das macht wach und frisch, sagte Köstlin.
Als er zehn Jahre alt geworden war, ließen die Eltern ihm Klavierunterricht geben. Sie bewunderten seine Musikalität. Die Flöte lernte er nebenher. Später, ebenso leicht, die Geige.
Du kannst mir auch auf der Flöte vorspielen, sagte Köstlin, Musik erfrischt den Geist.
Die Mutter sagte, wenn sie Lehrer und Schüler gemeinsam singen hörte: Nun sind sie wieder fröhlich. Nun ist es dem Fritz wieder wohl. Im August 1775 hatte sie zum erstenmal in ihrer zweiten Ehe ein Kind bekommen: Dorothea (die wenige Monate später starb). Die Großmutter hatte den Fünfjährigen aus dem
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