Härtling, Peter
dämpfen. Carl Eugen hofft es. Auf der Caris-Schule herrscht Grabesruhe. Sie steht unter der täglichen Fuchtel des Herrschers. Tübingen ist weit entfernt. Da helfen ihm Consistoriumsmitglieder ebenso wenig wie die eingesetzten Spitzel, die Horcher und Flüsterer.
Ich hatte angenommen, daß Hölderlin in den beiden ersten Jahren mit Neuffer eine Stube teilte, die Aldermänner ohnedies zusammen waren, doch aus Einträgen im Stipendiaten-Taler-Register läßt sich nachweisen, daß er auf der »Rattensphäre«, wahrscheinlich schon gemeinsam mit Hegel, gewohnt hat. Sie waren direkt in der Benennung ihrer Behausungen. Ratten wird es überall gegeben haben, doch ihr Trakt lag über dem Neckar, und dort werden die Ratten im Graben, nachts, gerascheltund gequietscht haben, die Studenten das Fürchten lehrend.
Es ist kaum verständlich, weshalb Hegel, der sein Stubengenosse war, nicht in den Freundesbund einbezogen wurde. Vielleicht hatte sich Hölderlin darüber geärgert, daß die vom Stuttgarter Gymnasium kommenden Hegel und Märklin bessere Zeugnisse als er hatten und ihn deshalb vom sechsten auf den achten Platz verdrängten. Vielleicht mißfielen Hegel auch die Schwärmereien der Aldermänner.
Viele der Stipendiaten lernten nicht so, wie es der Ephorus, einige Professoren und der Landesherr sich wünschten. Sie bequemten sich nicht der Orthodoxie an. Eben weil ihnen – und das wußten sie – auf den Seminaren jeglicher neue Gedanke vorenthalten worden war, nahmen sie jede Anregung von außen auf. Zwei Repetenten hatten auf diese Entwicklung beträchtlichen Einfluß: Conz und Diez.
Karl Philipp Conz war Stiftler gewesen und mit dem Eintritt Hölderlins Repetent geworden. 1791 verließ er das Stift, hielt aber Kontakt. Er konnte geradezu halluzinatorisch über Griechenland reden, ging auf in der alten Mythologie und Dichtung. Oft verhaspelte er sich in seinen Vorlesungen, geriet ins Stottern, vermochte Sätze nicht zu vollenden, wedelte hilflos mit den Armen, überdies auch als Erscheinung wunderlich, klein und feist, das Gesicht aus Wülsten von Speck, aus denen wasserhelle Augen brannten – die Studenten liebten ihn, denn er lebte, was er dachte. Oder: Er lebte aus dem Denken. Seine Gedichte kannten sie – und weil er in seiner Kindheit ein Spielgefährte Schillers gewesen war, hatte er schon darum mythischen Rang für sie.
Einer, der sich schwer bewegt, der seinen Geist ausschicken muß, um Bewegung zu haben. Er liest über die Tragödien des Euripides, läßt sich von seiner Eingebung tragen, beschreibt, ein Reisender nur in Phantasie, wie auch sein Hörer Hölderlin, die Schönheit Griechenlands: »Was mich am meisten dann anzieht, sind entweder die kolossalischen Schönheiten der Morgenwelt, oder mehr und öfter die großen Anfänge der Menschenkraft unterm schönen jonischen Himmel, auf jenen lieblichen Insuln, im Lande, das die Mutter Cytherens ward, weil es das Land der Schönheit und ihr großer allgemeiner Altar – war, ich meine – Griechenland .« Dieser Enthusiasmus packt die nur um wenig Jüngeren. Aus dem Lehrer wird ein Anstifter. Nicht, daß er wie Diez, der Kantianer, die politische Stimmung unmittelbar beeinflußte, da ist er allzu sehr ins Schönvergangene versponnen, aber gerade durch den Vergleich mit der Gegenwart, die Beschreibung gelebter Menschlichkeit, fördert er das Aufbegehren. Was er, nachdem er Tübingen verlassen hatte, hinter sich brachte, war eine gute Stiftlerlaufbahn: Erst Bildungsreisen, dann Diakon in Vaihingen an der Enz und in Ludwigsburg, endlich, ab 1804 Professor für klassische Literatur und Beredsamkeit in Tübingen, wo er Hölderlin, der nur wenige Jahre später auf seine Weise in die Stadt zurückkehrte, im Zimmerschen Haus besuchte.
Er schart eine kleine Gruppe um sich, Kenner und Eiferer. Sie trinken, rauchen, kommen sich als Auserwählte vor, als Fortgeschrittene.
Er atmet schwer, schwitzt, wischt sich dauernd mit einem Tuch das Gesicht.
Aber hier, auf dem Zimmer, vor wenigen, stottert er nicht, redet im Zusammenhang, setzt die Vorlesung fort,läßt sich auf Unterhaltungen ein, fördert die Leidenschaft seiner Hörer.
Sie reden, mitunter wirr durcheinander, über die Hekuba des Euripides, daß es hier allein um die Mutter gehe.
Ums Mutterbild.
Wesentlich aber auch um Agamemnons Schuld.
Den mag i net, sagt Hölderlin.
Wen? Den Agamemnon?
Nein, ich meine den Euripides. Mir sind Aischylos und Sophokles lieber. Die sind härter. Und wirklicher.
Was er
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