Härtling, Peter
unter »wirklich« verstehe?
Daß die Beziehungen schrecklich deutlich werden.
Das geschehe auch bei Euripides.
Des find i net.
Und was ist mit dem? Neuffer zieht einige Blätter aus der Tasche, faltet sie auseinander, fängt pathetisch an zu lesen: »Ich leide mit um deinen Sohn, und dich, / Um deines Schicksals willen, Hekuba, / Und reiche gnädig meine Hand, und will, / Daß um der Götter willen, kraft des Rechts, / Der böse Gastfreund dir die Strafe zahle.«
Des isch guet!
Conz ruft: Von wem ist das?
Vom Hölderlin, sagt Neuffer, legt, betont, die Blätter wieder zusammen, steckt sie ein. Der hat’s übersetzt.
Und du magst ihn nicht?
Bei Diez ist es anders. Er handelt mit Schmuggelgut. Die Lektüre Kants war im Stift lange Zeit verboten. Und gelehrt werden durfte Kant weiterhin nicht. Diez verbreitete sie in abgeschriebenen Auszügen und vor allem in Gesprächen. Kants Bücher wurden von den Studenten gekauft. Fraglich ist, ob sie die Bücher auf ihren Zimmern aufbewahren konnten, ob sie nicht zu jenen verdammtenLesegütern gehörten, die sie unten am Neckar unter Steinen versteckten. So erzählt man es sich heute noch.
Carl Immanuel Diez, vierundzwanzig Jahre alt, kaum älter als die Studenten, und als Repetent längst nicht so angesehen wie Conz, gab schon 1792 die Theologie auf und wurde, wie sein Vater, Mediziner.
Noch aber entfesselte er als ein Advokat der Aufklärung Diskussionen. Kant war für ihn ein Messias. Und er meinte es ernst. In zahlreichen Aufsätzen, in denen er Kant auslegte, sich entschieden gegen die orthodoxen Professoren wendete, versuchte er die Studenten zu bestimmen. Es ist sicher, daß Hegel, Schelling und Hölderlin mehr oder weniger unverhohlen zu seinen Anhängern gehörten, wenn auch sein Rivale Conz ihn schmähte. Er vereinfache, er habe sich zu entehrenden Äußerungen hinreißen lassen, wie dieser: Kant sei der Weltbeglücker, Jesus hingegen ein Betrüger. Das sei Sprengstoff fürs Stift.
All dies geschah unter dem Mantel der Geheimhaltung, denn hätte das Consistorium oder der Herzog von Diezens Umtrieben Kenntnis bekommen, wären er und einige seiner Treuen unverzüglich vom Stift entfernt worden.
Ein Famulus weckt Hölderlin und die anderen neuen Stubenkameraden. Es ist fünf. Der Tag deutet sich noch nicht einmal an. Es ist der erste Tag der Herbstferien, der 23. September 1790. Seit gestern ist er Magister. Er hat über all diesen Pomp der Verleihung und die Nutzlosigkeit der Würde gespottet; die fast einen Monat dauernde Prüfungszeit hat ihn erschöpft. Er will so rasch wie möglich nach Hause, das Stift hinter sich lassen. Er kann morgens nicht reden. Er kleidet sich an, trägt die Sachen zusammen, die er mitnehmen will, rollt und schnürt sie zum Bündel.
Es ist möglich, daß er sich an die vergangenen Monate erinnert, daß seine Gedanken eigentümlich hastig, fahrig sind. Nein, es war nicht alles widrig gewesen, nicht die Gemeinsamkeit mit Neuffer und Magenau, die herzliche Aldermännerei, nicht die endlosen Debatten über Kant, auf den er durch Diez gekommen war und den er für sich gewonnen hatte, nicht einmal die Vorlesungen von Conz oder Flatt oder Bardili, dessen Pantheismus ihn anrührte und von dem er auf Leibniz hingewiesen worden war – er hatte, sogar gegen den Widerstand Neuffers und Magenaus, in den letzten Monaten denken gelernt, philosophieren, hatte erfahren, wie der Gedanke und das Sein der Dinge zueinandergehören, wie die Vernunft zum Gradmesser der Existenz werden kann. Also hätte sich ja alles lohnen können. Aber da waren der Drill, die Mißgunst und vor allem die Enge der Lebensführung, die ihm das Vergnügen an der Arbeit verleideten.
Dann hatte er, im Sommer, Elise kennengelernt, die Tochter des Universitätskanzlers Lebret. Sie hatte ihm gefallen. Freilich ging er mit ihr mehr in seiner Phantasie um, da er sie kaum sah, und wieder idealisierte er sie, wie Louise. Sie wurde zu seiner Lyda: »Daß ich wieder Kraft gewinne, / Frei wie einst und selig bin, / Dank ich deinem Himmelssinne, / Lyda, süße Retterin!«
Er hatte sich vorgenommen, die Prüfungen gleichmütig zu überstehen. Es war üblich, daß zu Beginn kleinere Gruppen Dissertationen, die von Professoren geschrieben worden waren, verteidigen mußten. Der Professor leitete zugleich die Disputation. Zu Hölderlins Erleichterung und zu seinem Stolz – denn es waren nicht die schlechtesten aus seiner Promotion – zählten, neben ihm, zu seiner Gruppe Hegel,
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