Härtling, Peter
Studenten. Es waren jene Augenblicke, in denen sie sich aufgehoben und mächtig fühlten. Keiner wäre imstande, ihr Einverständnis zu brechen, und ihren Übermut genossen sie.
Woisch, Neuffer, jetzt könnt i in hohem Boge d’r Berg nonter bis in de Neckar brunze.
Tu’s doch!
Es isch z’weit.
Noi, er kann’s net.
Später. I brauch no a Viertele.
Sie sangen. Die schmalen Fenster des Gartenhauses standen offen, die warme Luft war vom Abendwind ein wenig bewegt.
Jetzt solle er gehen und den Punsch holen.
Magenau versicherte, so rasch wie möglich wieder zurück zu sein. Saufet inzwischen net z’viel Wei!
Er wußte jedoch, daß nun, vor dem Höhepunkt gemeinsamer Glückseligkeit, nach Hölderlins Vorstellung Stille herrschen sollte.
Das war sein Ritual.
Neuffer räkelte sich auf dem Sofa; Hölderlin sah aus dem Fenster, die Landschaft vor sich, die ähnlich wie auch in Nürtingen seinen Blick beruhigte – die in Bläue aufgehenden Hügel und Berge, Neuffen, Jusi, Achalm, Hohenzollern, Raichberg und der von Bäumen gesäumte Neckar; ganz zur Rechten das Schloß.
Der Magenau kommt, sagt er.
Neuffer steht auf, tritt neben ihn, sie sehen beide dem Freund zu, wie er die Gartenstaffel hochsteigt, vorsichtig die dampfende Schüssel vor sich hertragend. Sie öffnen ihm die Tür, geleiten ihn feierlich zum Tisch. Gemeinsam gehen sie dann durch den Garten, den vorgeschriebenen Weg, aus dem Garten hinaus, bis zu einem Brunnen, dem »Philosophenbrunnen«, den Hölderlin zum »Kastalischen Quell« ernannt hatte. Er achtete darauf, daß sich die Freunde Gesicht und Hände in dem eiskalten Wasser wuschen, tat es dann selbst. Sie trockneten sich nicht ab; das war verboten. Mit von der Kühle gereinigten Gesichtern gingen sie zurück zum Häuschen, hoben die Gläser, und auf ein Zeichen Hölderlins begannen sie Schillers »Lied an die Freude« zu singen. Neuffer hatte es, als es vor Jahren in der »Thalia« erschienen war,abgeschrieben; Hölderlin hatte die Hymne erst auf dem Stift kennengelernt. Seither galt sie ihm »als heiliges Lied«.
Ihre Emphase drängte sie, laut zu werden. Magenau erzählt später, bei der Strophe, die dem gemeinsamen Pokulieren gilt, »Freude sprudelt in Pokalen«, habe Hölderlin, Tränen in den Augen, den Becher aus dem Fenster gegen den Himmel gehalten und »dieses Glas dem guten Geist« mit einer Macht gebrüllt, daß das ganze Neckartal davon widergehallt habe.
Es sind Stimmen und Stimmungen aus der Zeit. Schon Schillers Lied, in dem Männerbund und Männerfreundschaft sich fast lächerlich verquicken, in dem gleichsam als Ursprung für eine weltumspannende Empfindung die Liedertafel gelten könnte, schon dieses Lied entspricht den Emotionen der Jungen ganz. Sie brechen auf. Aber sie schleppen verständlicherweise viel mit. Nicht zuletzt alles, was ihnen anerzogen wurde und worin sie sich, selbst im Aufbegehren, sicher finden. Das Vaterländische, das Teutsche, so sehr es hernach noch als zeitlos interpretiert wird, hat einen realen Hintergrund. Der dritte Stand ist noch ausgeschlossen. Er wird aber davon profitieren. An diesem frühen Abend jedoch, an dem ein Student das Gefühl des Augenblicks über die Welt verströmen will, sind nicht viele dem Zeitgeist nahe.
Der isch außer sich, sagt Magenau, manchmal isch m’rs fast z’viel.
Laß en no, ’s isch sei Genius, sagt Neuffer.
Aber sie betrachten ihn wie einen, der aus ihrer Mitte nach vorn getreten ist, an die Rampe, vor ein Publikum, das sie noch nicht kennen und vor dem sie sich uneingestanden fürchten.
Ich sehe sie durch den Hof vor der alten Burse kommen, entlang der Mauer, die aus den Gärten am Neckar aufsteigt. Der Abend ist lau. Sie gehen, schweigsam, durch das steinerne Tor ins Stift, aneinandergedrängt, als schämten sie sich ihrer großen Gefühle.
Die Tübinger Jahre müssen sich im nachhinein in seinem Gedächtnis verkürzt haben zu einer Reihe dauerhafter, sein Leben bestimmender Bilder. Er war, trotz aller »Capricen«, noch im Lot. Nach den Aldermännern kam die Freundschaft mit Hegel und Schelling, vor allem die Verbindung zu Stäudlin und seiner Familie, die sich weitenden Beziehungen, der erste Ruhm.
Der Druck des Herzogs aufs Stift wird immer stärker. Neue Statuten werden vorbereitet. Der Stipendiat Rümelin wird »wegen schlechten Verhaltens« entlassen. Verweise werden erteilt, die auch Hölderlin treffen. Der Primus Renz muß in den Karzer. Alle diese Maßnahmen können die wachsende Unruhe nicht
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