Hafen der Träume: Roman (German Edition)
einmal überdacht. Die Studie könnte interessant sein. Schließlich war sie eine geübte Beobachterin und erfahren in der Dokumentation ihrer Beobachtungen.
Ihren Nerven würde die Arbeit wohl tun, überlegte sie, als sie in ihrer hübschen kleinen Hotelsuite auf und ab wanderte. Ganz sicher war ihr Vorhaben leichter durchzuführen, und sie gewann mehr Informationen, wenn sie den gesamten Aufenthalt in St. Christopher als eine Art Forschungsprojekt betrachtete. Sie brauchte Zeit, Objektivität und Zugang zu den beteiligten Personen.
Günstige Umstände wollten es, dass alle drei Voraussetzungen erfüllt waren.
Sybill trat nach draußen, auf den sechzig Zentimeter vorspringenden Betonstreifen, den das Hotel großspurig Balkon nannte. Vor ihr breitete sich das überwältigende Panorama der Chesapeake Bay aus, und es boten sich interessante Einblicke in das Hafenleben. Sie hatte bereits die Fischerboote gesehen, die tuckernd von ihren Fanggründen zurückkehrten, am Pier anlegten und ganze Tanks voller Blaukrebse ausluden, eine Art, für die diese Gegend bekannt war. Sie kannte die Krabbensammler, die Möwenschwärme und die über das Wasser segelnden Silberreiher. Was noch fehlte, war der Besuch in einem der kleinen Läden.
Aber Sybill war nicht nach St. Christopher gekommen, um Souvenirs zu kaufen.
Immerhin, sie könnte einen Tisch ans Fenster schieben, um vor diesem Panorama zu arbeiten. Wenn der Wind günstig stand, würden vielleicht Wortfetzen von unten hinaufgetragen. Die Menschen hier sprachen langsamer und weicher als in New York, wo sie seit einigen Jahren ihren Hauptwohnsitz hatte.
Noch nicht ganz der Tonfall des Südens, wie man ihn in Atlanta, Mobile oder Charleston hörte, dachte sie, aber weit entfernt von der knappen und konsonantenreichen Sprechweise des Nordens.
An sonnigen Nachmittagen könnte sie auf einer der Eisenbänke sitzen, die am Ufer standen, und die kleine Welt betrachten, die aus dem Zusammenspiel von Wasser, Meerestieren und menschlicher Arbeit entstanden war.
Sie würde sehen, wie die Menschen in einer Gemeinde wie St. Christopher, deren Existenzgrundlage die Bucht und die Touristen waren, miteinander lebten. Von welchen Traditionen, Gewohnheiten und Klischeevorstellungen ließen sie sich leiten? Kleidungsstil, körperliche Verhaltensmuster und Ausdrucksweise würden interessant sein. Den meisten Menschen war nicht klar,
wie sehr sie sich an die unausgesprochenen Regeln ihres sozialen Umfelds hielten.
Regeln über Regeln. Sie waren allgegenwärtig, und Sybill glaubte bedingungslos an ihre Gültigkeit.
Nach welchen Regeln lebten die Quinns? überlegte sie. Was verband diese Familie? Natürlich besaßen sie ihre eigenen Codes, ihre eigenen Kürzel, mit einer Hackordnung und einem Maßstab für Belohnung und Strafe.
Wie und wo passte Seth hinein?
Dies auf diskrete Weise herauszufinden war Sybills Hauptinteresse.
Sybill sah keinen Grund, den Quinns zu verraten, wer sie in Wirklichkeit war und warum sie sich in St. Christopher aufhielt. Es war für alle Beteiligten am besten, wenn der Grund ihrer Mission im Dunkeln blieb. Die Quinns könnten womöglich sogar mit Erfolg versuchen, jeden Kontakt zwischen ihr und Seth zu unterbinden. Der Junge war jetzt seit Monaten bei ihnen. Sybill wusste nicht, wie die Quinns ihm seine Situation wohl erklärt hatten.
Zuerst musste sie beobachten, nachdenken und sich ein Urteil bilden. Dann würde sie handeln. Sie würde sich auf keinen Fall unter Druck setzen lassen. Sie würde weder Schuldgefühlen nachgeben noch unangemessene Verantwortung übernehmen. Und sie würde sich die nötige Zeit lassen.
Nach der ersten Begegnung heute auf der Werft würde es lächerlich einfach sein, die Quinns näher kennen zu lernen. Sie musste nur das große Backsteingebäude betreten und Interesse am Bau von hölzernen Segelschiffen zeigen.
Phillip Quinn wäre ihre Eintrittskarte. Er hatte alle typischen Verhaltensmuster gezeigt, die auf erwachendes sexuelles Interesse hinwiesen. Und daraus einen Vorteil zu schlagen, würde nicht gerade ein Opfer bedeuten.
Phillip verbrachte nur wenige Tage der Woche in St. Christopher. Es bestand kaum die Gefahr, dass der belanglose Flirt ausuferte und sie auf gefährliches Terrain geriet.
Eine Einladung in sein Haus wäre vermutlich ziemlich leicht zu ergattern. Sie musste sehen, wo und wie Seth hier lebte und wer sich um ihn kümmerte.
War der Junge glücklich?
Gloria hatte gesagt, die Quinns hätten ihr ihren Sohn
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