Hafen der Träume: Roman (German Edition)

gestohlen. Sie hätten ihren Einfluss und ihr Geld dazu benutzt, ihr Seth wegzunehmen.
    Aber Gloria log. Sybill presste die Augen zusammen, um Ruhe und Objektivität kämpfend und um ihre Verletztheit zu beherrschen. Ja, Gloria war eine Lügnerin. Und sie benutzte andere Menschen. Aber sie war auch die Mutter von Seth.
    Sybill ging zum Schreibtisch, öffnete ihr Adressbuch und zog das Foto heraus. Ein kleiner Junge mit strohblondem Haar und strahlend blauen Augen lächelte ihr entgegen. Sie hatte das Foto selbst aufgenommen beim ersten und einzigen Mal, als sie Seth begegnet war.
    Damals musste er vier Jahre alt gewesen sein, überlegte sie. Phillip hatte gesagt, er sei jetzt zehn, und sie erinnerte sich, dass Gloria vor sechs Jahren auf der Schwelle zu ihrem Apartment in New York gestanden hatte, ihren Sohn im Schlepptau.
    Natürlich war Gloria verzweifelt gewesen. Ohne Geld, wütend, verheult und bettelnd. Sybill hatte keine andere Wahl gehabt, als sie hereinzulassen, schon allein wegen des Kindes, das sie mit riesigen, angsterfüllten Augen anstarrte. Sybill hatte keine Ahnung von Kindern. Sie war nie mit Kindern zusammen gewesen. Vielleicht hatte sie Seth deshalb so schnell und tief in ihr Herz geschlossen.
    Drei Wochen später, als sie am Abend nach Hause zurückkehrte, waren die beiden verschwunden, zusammen
mit dem gesamten Bargeld, ihrem Schmuck und der kostbaren Sammlung von Daum-Porzellan. Sybill war am Boden zerstört.
    Heute sagte sie sich, dass sie damit hätte rechnen müssen. Das Verhalten war ganz typisch für Gloria. Damals hatte sie geglaubt, ja verzweifelt glauben müssen, dass sie und Gloria doch noch zusammenfinden würden, weil durch das Kind alles anders war. Sybill hatte geglaubt, sie könne helfen.
    Gut, dieses Mal würde sie vorsichtiger sein, weniger gefühlsbetont, dachte Sybill, als sie das Foto wieder einsteckte. Sie wusste, dass Gloria wenigstens zum Teil die Wahrheit sagte. Was sie von nun an unternehmen würde, hing davon ab, welches Urteil sie sich selbst bildete.
    Morgen, wenn sie ihren Neffen wiedersah, würde sie damit anfangen.
    Sie setzte sich, schaltete ihren Laptop ein und begann sich Notizen zu machen.
     
    Die Quinn-Brüder scheinen eine unkomplizierte, durch männliche Verhaltensmuster geprägte Beziehung zu haben. Meine ersten Beobachtungen lassen den Schluss zu, dass sie gut miteinander kooperieren. Um die Rolle zu bestimmen, die jeder Einzelne in der gemeinsamen Firma und der Familie innehat, sind weitere Beobachtungen erforderlich.
    Cameron und Ethan Quinn sind jung verheiratet. Um die Ordnung in dieser Familie zu verstehen, muss ich die beiden Ehefrauen kennen lernen. Logischerweise wird eine von ihnen die Mutterfunktion übernommen haben. Da Anna Spinnelli Quinn, Camerons Frau, einer Ganztagsbeschäftigung nachgeht, ist anzunehmen, dass Grace Monroe Quinn diese Rolle innehat. Es wäre allerdings falsch, vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Genauere Beobachtungen sind unerlässlich.
    Bezeichnend fand ich, dass auch Seths Name auf dem Firmenschild stand, das die Brüder heute Nachmittag aufgehängt haben, allerdings wurde er als ein Quinn aufgeführt.
Ich kann nicht beurteilen, ob der Verzicht auf den gesetzlichen Nachnamen eher dem Jungen oder den Quinns dienlich ist.
    Mit Sicherheit ist dem Jungen bewusst, dass die Quinns das ständige Sorgerecht für ihn beantragt haben. Bis jetzt kann ich nicht sagen, ob er zumindest einen von Glorias Briefen, die an ihn gerichtet waren, erhalten hat. Vielleicht haben die Quinns die Briefe vernichtet. Obwohl ich Gloria in ihrer Not und dem verzweifelten Wunsch verstehe, das Kind zurückzubekommen, halte ich es für das Beste, dass sie nichts von meinem Aufenthalt hier erfährt. Sobald das Ergebnis meiner Nachforschungen in schriftlicher Form vorliegt, werde ich mich mit ihr in Verbindung setzen. Sollte es zu einer Gerichtsverhandlung kommen, sind wir mit Fakten besser beraten als mit gefühlsbetonten Aussagen.
    Hoffentlich setzt sich der Anwalt, den Gloria eingeschaltet hat, bald auf dem Rechtsweg mit den Quinns in Verbindung.
    Ich hoffe, Seth morgen zu sehen und bei dieser Gelegenheit tieferen Einblick in die Situation zu erhalten. Hilfreich wäre es herauszufinden, wie viel Seth über seine Herkunft weiß. Da ich selbst erst seit kurzem die vollständigen Informationen besitze, habe ich noch nicht alle Fakten einordnen und in ihrer Tragweite bestimmen können.
    Bald wird man wissen, ob Kleinstädte tatsächlich eine Brutstätte für