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Hafen der Träume: Roman (German Edition)

Hafen der Träume: Roman (German Edition)

Titel: Hafen der Träume: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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Ich habe einmal ein Experiment in Großstädten durchgeführt. Da habe ich einen Mann auf die Straße gestellt und ihn die Fassade eines Gebäude hinaufschauen lassen.«
    »Einfach so, bloß hinaufschauen lassen?«
    »Genau. Er hat auf der Straße gestanden und das Gebäude hinaufgeschaut, die Augen vor der Sonne schützend, und hat nach oben gesehen. Es hat nicht lang gedauert, bis sich jemand neben ihn stellte und auch nach oben geschaut hat. Dann kam noch einer und noch einer, und bald stand eine Gruppe von Männern und Frauen da und blickte die Fassade hinauf. Es dauerte ziemlich
lang, bis einer fragte, was eigentlich los ist, warum alle nach oben starren. Niemand wollte der Erste sein, der diese Frage stellt, weil er damit eingestanden hätte, etwas nicht zu sehen, was seiner Meinung nach alle anderen sahen. Wir wollen dazugehören, angepasst sein, wollen das wissen und sehen und verstehen, was die Person neben uns weiß und sieht und versteht.«
    »Wetten, dass ein paar von denen gedacht haben, da springt gleich einer aus dem Fenster?«
    »Sehr wahrscheinlich. Die Leute blieben im Durchschnitt zwei Minuten stehen und schauten nach oben, unterbrachen also zwei Minuten lang ihre gewohnte Routine.« Sybill hatte den Eindruck, Seths Fantasie angeregt zu haben, und setzte eifrig hinzu: »Eine ziemlich lange Zeit, um die langweilige Fassade eines Gebäudes hochzublicken.«
    »Ziemlich cool. Aber auch bescheuert.«
    Sie näherten sich der Kreuzung, wo Seth zur Bootswerkstatt abbiegen würde. Sybill traf ganz gegen ihre Gewohnheit eine spontane Entscheidung. »Was, meinst du, würde passieren, wenn wir dieses Experiment in St. Christopher ausprobieren?«
    »Keine Ahnung. Das Gleiche?«
    »Daran zweifle ich.« Sie lächelte geheimnisvoll. »Willst du es versuchen?«
    »Vielleicht.«
    »Wir könnten es an der Hafenstraße versuchen. Oder macht sich dein Bruder Sorgen, wenn du dich ein paar Minuten verspätest? Willst du ihm vorher Bescheid sagen?«
    »Nee. Cam sieht das nicht so eng. Ich kann ruhig zu spät kommen.«
    Sie wusste nicht, was sie von diesen lockeren Regeln halten sollte, doch im Augenblick war sie froh, dass ihr daraus ein Vorteil entstand. »Also versuchen wir es. Ich spendier dir auch ein großes Eis.«
    »Abgemacht.«
    Sie kehrten der Bootswerkstatt den Rücken. »Such dir die Stelle selbst aus«, schlug sie vor. »Wichtig ist, dass man steht. Wenn einer sitzt und etwas betrachtet, schenkt man ihm keine Beachtung. Dann glaubt man, er träumt vor sich hin und ruht sich nur aus.«
    »Kapiert.«
    »Und es ist besser, wenn man nach oben sieht. Was dagegen, wenn ich dich aufnehme?«
    Er zog die Brauen hoch, als sie eine kleine Videokamera aus der Tasche holte. »Geht klar. Haben Sie die immer dabei?«
    »Wenn ich arbeite, ja. Kamera, Kassettenrecorder, Batterien und Leerbänder, Notizbuch und haufenweise Bleistifte. Und mein Handy.« Sie lachte. »Ich bin gern vorbereitet. Und wenn demnächst ein Computer auf den Markt kommt, der so klein ist, dass er in meine Handtasche passt, bin ich die erste, die sich das Ding zulegt.«
    »Phil steht auch auf diesen elektronischen Kram.«
    »Die Macken der Großstädter. Nur ja keine Minute verlieren. Und wir haben für nichts mehr Zeit, weil wir den ganzen Tag verkabelt sind.«
    »Man kann die Dinger auch abschalten.«
    »Ja.« Seltsamerweise kam ihr die einfache Bemerkung tiefsinnig vor. »Ja, könnte man.«
    Im Hafen war nicht viel los. An der Mole entlud ein Fischerboot seinen Fang. Um einen der kleinen Tische saß eine Familie, genoss den milden Nachmittag und verwöhnte sich mit riesigen Bechern Fruchteis. Zwei alte Männer mit nussbraunem, zerfurchtem Gesicht saßen auf einer Bank, ein Schachbrett zwischen sich. Keiner von ihnen schien sich zum nächsten Zug entscheiden zu können. In der Tür eines Lebensmittelgeschäfts hielten drei Frauen einen Schwatz, eine von ihnen trug eine Einkaufstasche.
    »Ich stell mich da drüben hin.« Seth deutete auf die Stelle. »Und schaue die Hotelfassade hinauf.«
    »Gute Wahl.« Sybill blieb zurück, als er losmarschierte. Entfernung war ein wichtiger Faktor, um das Experiment nicht zu verfälschen. Sie hob die Kamera und bediente das Zoom, während Seth sich entfernte. Einmal drehte er sich um und grinste ihr augenzwinkernd zu.
    Als sie seinen Kopf in Großaufnahme auf dem kleinen Monitor hatte, wallten Empfindungen in ihr hoch, auf die sie nicht vorbereitet war. Er sah so hübsch aus, so aufgeweckt. Und so glücklich. Rasch

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