Hafen der Träume: Roman (German Edition)
verdrängte sie die Anwandlung, die einer Verzweiflung gefährlich ähnlich war.
Sie konnte gehen, ihre Sachen packen und abreisen, dachte sie. Ihn nie wieder sehen. Er würde nie erfahren, wer sie war, was sie füreinander waren. Er würde nicht vermissen, was sie in sein Leben bringen könnte. Sie bedeutete ihm nichts.
Sie hatte nie wirklich versucht, ihm etwas zu bedeuten.
Das ist anders geworden, sagte sie sich. Sie wollte dafür sorgen, dass es sich änderte. Sybill machte ihre mentalen Entspannungsübungen. Finger lockern, Hals, Arme locker lassen. Sie fügte niemandem Schaden zu, wenn sie ihn kennen lernte, ein wenig Zeit mit ihm verbrachte und seine Lebenssituation studierte.
Sie zeichnete Seth auf Video, als er sich auf den Gehsteig stellte und das Gesicht hob. Sein Profil war feiner als das von Gloria, dachte Sybill. Vielleicht hatte er den Knochenbau seines Vaters.
Sein Körperbau war auch nicht der von Gloria, wie sie zunächst angenommen hatte, sondern glich eher dem ihren und dem ihrer Mutter. Er würde ein hochaufgeschossener Bursche sein, wenn er erwachsen war. Lange Beine, schlank.
Seine Körpersprache war typisch für die Quinns, eine
Feststellung, die ihr einen leichten Stich versetzte. Er hatte bereits ein paar Verhaltensweisen seiner Pflegefamilie angenommen. Breitbeinige Haltung, vorgeschobene Hüften, Hände in den Taschen, den Kopf zur Seite geneigt.
Sie verdrängte eine lästige Verstimmung und befahl sich, sich auf das Experiment zu konzentrieren.
Es dauerte länger als eine Minute, bis jemand bei Seth stehen blieb. Sie erkannte die dicke Frau mit dem grau melierten Haar, die hinter der Ladentheke bei Crawford thronte. Alle Welt nannte sie Mutter. Wie erwartet, legte die Frau den Kopf in den Nacken und folgte Seths Blick nach oben. Sie suchte kurz, dann klopfte sie Seth auf die Schulter.
»Was gibt’s denn da zu sehen, Junge?«
»Nichts.«
Er murmelte die Antwort, und Sybill ging näher heran, um auch seine Stimme aufzeichnen zu können.
»Na hör mal. Dafür, dass es nichts zu sehen gibt, stehst du aber ziemlich lange hier rum. Die Leute werden denken, du bist nicht ganz richtig im Kopf. Wieso bist du nicht in der Werkstatt?«
»Ich geh ja gleich.«
»Tag, Mutter. Hi, Seth.« Eine hübsche junge Frau mit dunklen Haaren kam ins Bild und blickte die Hotelfassade hinauf. »Ist da oben irgendwas los? Ich seh’ nichts.«
»Es gibt auch nichts zu sehen«, informierte Mutter sie. »Der Junge steht nur da und glotzt Löcher in die Luft. Wie geht’s deiner Mama, Julie?«
»Nicht besonders, sie hat Halsschmerzen und Husten.«
»Hühnersuppe, heißer Tee mit Honig.«
»Grace hat ihr heute früh einen Topf Suppe gebracht.«
»Sieh zu, dass sie die auch isst. Hey, Jim.«
»’Tag.« Ein untersetzter, stämmiger Mann in weißen
Gummistiefeln stapfte herüber und gab Seth einen freundlichen Klaps auf den Kopf. »Was siehst du denn da?«
»Mann, kann ich nicht einfach mal rumstehen?« Seth drehte das Gesicht zur Kamera, verdrehte die Augen und brachte Sybill zum Lachen.
»Wenn du hier noch lange rumstehst, scheißen dir die Möwen auf den Kopf.« Jim blinzelte ihn an. »Der Käpten ist schon eingelaufen«, setzte er hinzu und meinte Ethan damit.
»Wenn er vor dir in der Werkstatt ist, will er wissen, wo du dich rumtreibst.«
»Ich geh ja schon, Mann.« Mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern trabte Seth zurück zu Sybill. »Keiner fällt drauf rein.«
»Weil dich jeder kennt.« Sie schaltete die Kamera aus und steckte sie weg. »Dadurch verändert sich das Muster.«
»Haben Sie gewusst, dass das passieren würde?«
»Gewusst habe ich es nicht. Ich habe nur eine Theorie aufgestellt«, korrigierte sie. »In einer Nachbarschaft, wo jeder die Versuchsperson kennt, verändert sich das Verhaltensmuster. Ein Passant bleibt zwar stehen und sieht nach oben, stellt die Frage aber schon nach dem ersten Blick. Die Gefahr, dass er sich blamiert, wenn er eine ihm bekannte Person fragt, noch dazu einen Jugendlichen, besteht nicht.
Stirnrunzelnd blickte er zu den Frauen vor Crawfords Gemischtwarenladen hinüber, die ihren Plausch wieder aufgenommen hatten. »Aber meinen Lohn bekomme ich trotzdem.«
»Na logisch. Vermutlich tauchst du sogar in meinem Buch auf.«
»Cool. Ich nehme einen grossen Becher Schoko-Vanille. Und dann muss ich rüber, bevor Cam und Ethan sauer werden.«
»Wenn sie dir Vorwürfe machen, erkläre ich es ihnen. Es ist meine Schuld, wenn du zu spät
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