Hahn im Korb.
die Kraft genommen hatte, die Privatsphäre der Witwe Tripepi zu verletzen, die Pein von Mammarosa zu ignorieren, sich den Blicken aller auszusetzen und nach außen hin seelenruhig seinen Fuß ins Café zu setzen.
Er hörte, wie die Lautstärke des Geredes unter den Gästen rapide abnahm, und das versetzte ihm so etwas wie einen elektrischen Schlag. Trotzdem näherte er sich der Theke.
»Gib mir etwas Kaltes zu trinken«, sagte er zu Masino.
»Willst du keinen Kaffee?«
»Nein, ich hab' 'ne trockene Kehle.«
Masino schenkte ihm eine Orangeade ein.
»Wieso bist du heute nicht aufs Land gegangen?«
»Ich hatte im Dorf zu tun. Ich habe Pinuzzo hingeschickt.«
Masino ließ ihn stehen, um weitere Kaffees aus der Maschine zu lassen, doch bevor Vito sein Glas geleert hatte, kam er noch einmal zu ihm.
»Heute früh haben sie guten Fisch an Land gebracht«, sagte er. »Ich habe ein Kilo Seebarsch gekauft. Wenn du um eins vorbeikommst, gehen wir zusammen zu Catena und lassen sie uns von ihm zubereiten.«
»Um eins«, stimmte Vito zu und verließ das Lokal, ohne zu wissen, wohin er gehen sollte.
Der schwarzgekleidete Mann mit den gelben Schuhen und der roten Krawatte, der an einem kleinen Tisch des »Caffè del porto« saß – das letzte auf dem Corso und das dem Meer am nächsten gelegene – und ein Bein auf einen anderen Stuhl gelegt hatte, sah zerstreut den Arbeitern zu. Die richteten die mit Glühbirnen gespickten Holzbögen – die Festbeleuchtung für die bevorstehenden Dorffeierlichkeiten – jeweils zwischen zwei Balkonen auf und befestigten sie daran. Träge strich sein Auge über die Stände mit càlia e simenza – geröstete Melonensamen und Kichererbsen – oder mit gelato di campagna – ein Gemisch aus farbigem Zucker und Pistazien – sowie über die Stapel harter Mandeltorrones, cubàita genannt. Plötzlich trat Vito ins Blickfeld seiner unter den halbgeschlossenen Lidern umherschweifenden Augen. Vito ging raschen Schrittes und mit geschäftiger Miene Richtung Hafen, als hätte er etwas Dringliches zu erledigen. Die Augen folgten ihm, ließen nicht von ihm ab, bis er um die Ecke gebogen war. Erst dann rührte sich der Mann aus der reglosen Starre, in die er versunken war – wie ein Spürhund, der das Wild wittert –, und strich sich den schmalen, gepflegten Lippenbart glatt.
»Weißt du, was ich dir sage? Ich gehe heute abend noch einmal hin«, meinte er.
Der andere, der neben ihm saß – ein gedrungener Typ, der die coppola tief in die Stirn gezogen hatte und eine zerlumpte Hose und ein über der Brust aufgeknöpftes Hemd trug –, beschränkte sich darauf, eine Grimasse zu ziehen.
»Was soll das?« fragte der Mann in Schwarz.
»Daß es heute abend sein soll, überzeugt mich nicht recht.«
»Wann mußt du schon von etwas überzeugt sein, Giovannino?« In dieser Frage lag eine abfällige Spitze, die der Angesprochene lieber überhören wollte.
»Es ist mir nicht geheuer, weil es noch zu früh ist. Wir könnten wie die Mäuse in die Falle gehen.«
»Und die Katze soll Corbo sein?« fragte der Mann in Schwarz mit einem Grinsen und übertünchte seinen verächtlichen Ton mit einem Spritzer überlegener Ironie.
»Die Abmachungen lauteten aber nicht so«, warf Giovannino, der mit der coppola, nach einer Pause erneut ein.
»Ich scheiß' auf die Abmachungen. Ich habe immer schon nach meinem eigenen Kopf gehandelt.«
Ein Armer, der mit einer Art Meckern um Almosen bettelte, war an ihren Tisch gekommen. Als der Mann in Schwarz ihn erblickte, machte er eine abfällige Geste.
»Ich habe vorhin schon etwas gegeben«, sagte er.
Der Bettler verdrückte sich. Es war wie beim Spiel der Farben, bei dem jemand an einem Fenster steht und seine Aufmerksamkeit auf irgendeine Farbe richtet: Plötzlich wimmelt die Straße vor lauter Gegenständen, Kleidern und Fahrzeugen in ebenjenem Farbton. Und so bemerkte der Mann urplötzlich, daß es auf dem Corso nur so wimmelte von Armen, Verkrüppelten, verlotterten Müttern mit Kindern im Arm oder am Rockzipfel, und allesamt bettelten sie in unterschiedlichen Jammertönen. Eine Art lebender, wuselnder Lumpenhof, doch der Mann, der über keinerlei kulturellen Bezugspunkte verfügte, verspürte so etwas wie Ärger und Beunruhigung.
»Und was ist das? Eine Versammlung?« fragte er den mit der coppola.
»Es ist wegen des Dorffests«, erklärte Giovannino, »sie kommen alle wegen des Fests.«
»Aber was
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