Hahnemanns Frau
doch noch untreu werden?«
Sie sagte nichts, sondern lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sie war zu müde, um Einwände zu bringen, und wenn sie ehrlich war, war es ihr durchaus recht, nicht allein in einem Zimmer schlafen zu müssen. Der Überfall hatte ihr Angst gemacht.
Als man später bei Tisch zusammen saß, brachte Félix Apfelschnaps und erzählte, was man ihm und Susanne über Maurices und Adriens Tod berichtet hatte.
Jacques hatte Tränen in den Augen, aber er schluckte sie mit dem Schnaps hinunter und ließ sich einen zweiten einschenken. »Der Krieg«, murmelte er, »hat noch nie was Gutes gebracht.«
»Die Preußen sind Schweine!« begann Susanne wieder.
Da schrie Jacques seine Schwester plötzlich an: »Glaubst du denn, es macht etwas aus, ob eine Kugel aus einem Preußengewehr kommt oder aus einem französischen? Der Tod ist für alle gleich, hüben wie drüben. Und die Kinder und Frauen der Männer, die unser Vater anno dazumal totgeschossen hat, weil Kaiser Napoleon die Welt erobern wollte, die werden sagen, die Franzosenschweine! So geht es hin und her wie mit Lothringen und dem Elsaß, das man nun auch schon wieder den Deutschen versprechen will, und am Ende sind alle Schweine, und jeder haßt jeden, und niemals wird es Frieden geben. Also gib Ruhe jetzt, Susanne!«
Die Frau war bleich geworden. Mit zitternden Lippen starrte sie ihren Bruder an. Auf einmal sprang sie auf und lief hinaus, wo man sie weinen hörte.
Nach diesem Vorfall wollte kein Gespräch mehr aufkommen, und daher ging man zu Bett.
Es gab nur einen kleinen Kerzenstummel im Zimmer. Mélanie zündete ihn sogleich an. Sie zog ihr Kleid aus und hängte es sorgsam über den Stuhl, das Unterkleid aus weißem Leinen ließ sie an. Dann setzte sie sich aufs Bett, öffnete ihr Haar und begann es zu bürsten.
Sébastien stand an der Tür. Der Schein der Kerze reichte nicht bis zu ihm, so konnte Mélanie nicht sehen, daß er sie zärtlich lächelnd beobachtete.
Wie verlegen sie war und wie schön dabei! Daß die Jahre kleine Falten in ihre Haut gegraben hatten, störte ihn nicht. Etwas anderes war ihm viel wichtiger: die Kraft, die sie noch immer ausstrahlte und ohne die sie die Widrigkeiten ihres bewegten Lebens niemals hätte durchstehen können. Ihre hohe, intelligente Stirn, ihre immer noch sinnlichen Lippen, das Strahlen ihrer blauen Augen, wenn sie für einen kurzen Moment ihr Leid vergaß.
Immer hatte Sébastien schöne Frauen geliebt, aber nie hatte eine dieser Schönen ihn so tief bewegen können, wie Mélanie es vermochte. Sie war wie der Mond bei Nacht – wenn ihn die Sonne beschien, dann konnte er mit seinem Leuchten Licht ins Dunkel der Welt bringen.
Er liebte diese wunderbare, eigensinnige, faszinierende Frau. Er mußte sie nicht besitzen, wie man ein besonderes Schmuckstück besitzen wollte. Aber nah sein wollte er ihr. Im Herzen, im Geiste und vielleicht in dieser Nacht auch einmal ihrem Körper – so nahe sein, daß er ihre Wärme spüren und sie in sich aufnehmen, daß er ihren Duft riechen und sie streicheln konnte. Was war schon die Liebe der jungen Jahre – ein heftiger Impuls, der fordernd sich holte, was ein Körper zu brauchen glaubte. Die reife Liebe lag im Geben. Sich halten und tragen, sich wärmen und einander gut sein aus tiefster Seele.
Als die Hand, in der sie die Bürste hielt, nach dem letzten Strich in ihren Schoß sank, seufzte sie leise. »Na, nun komm schon her«, sagte sie, »ich weiß doch, daß du dort an der Tür stehst und mich beobachtest und mich umarmen möchtest – mein liebster Freund, das Beste, was mir geblieben ist.«
Er trat nach vorne, ging vor ihr auf die Knie und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Ihre Hand glitt langsam durch sein graues Haar, und sie fühlte seine Tränen auf ihren Schenkeln.
Kurz vor Mitternacht schreckte Mélanie plötzlich auf. Sie hörte Geräusche vor dem Haus, ein Knacken und Flüstern. Sie schlüpfte aus dem Bett und schlich zum Fenster. Erst als sie eine Weile angestrengt ins Dunkle gestarrt hatte, konnte sie die Gestalten erkennen, die sich an dem Wagen zu schaffen machten, den Félix als Barrikade vors Scheunentor gestellt hatte.
Auf einmal stand auch Sébastien neben ihr.
»Vielleicht versuchen sie in die Scheune zu kommen, um unser Gepäck zu stehlen!« Mélanies Stimme klang panisch. »Kannst du sehen, wer es ist? Ist Félix dabei?«
»Nein.« Sébastien schüttelte den Kopf. »Ich kann niemanden so recht erkennen. Ich sollte
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