Hahnemanns Frau
Jacques wecken.«
Er ging zur Tür, Mélanie folgte ihm. Es war dunkel auf dem Flur, und wo eine Lampe war, wußten sie nicht. Sie tasteten sich an der Wand entlang zum nächsten Zimmer. Sébastien klopfte und rief leise nach Jacques. Niemand rührte sich.
»Jacques!« Sébastiens Stimme wurde lauter.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Susanne stand vor ihnen. Sie hielt eine Kerze in der Hand und starrte die beiden an. »Jacques schläft in der Scheune bei der Kutsche. Mir war's nicht recht, aber er wollte es so.«
»Draußen sind Männer«, sagte Mélanie.
»Es ist Félix mit zwei von unseren Knechten.«
»Aber was tun sie dort?«
»Sie werden schon etwas zu besprechen haben«, antwortete Susanne barsch und schloß die Tür wieder.
Mélanie schüttelte ratlos den Kopf. »Sie ist böse auf uns, oder man hat hier etwas zu verbergen. Vielleicht wollen sie tatsächlich unsere Sachen …«
»Leise.« Sébastien legte eine Hand auf ihren Mund. »Da ist jemand ins Haus gekommen. Geh zurück ins Zimmer.« Er flüsterte so leise, daß sie ihn kaum verstehen konnte. »Ich werde nachsehen.«
»Sébastien –« Mélanie hielt seine Hand fest. »Sei vorsichtig!«
»Ja, natürlich.«
Mélanie zog leise die Tür hinter sich zu und ging wieder zum Fenster. Es war nun ruhig vor dem Haus, und sie konnte auch keine Gestalten mehr erkennen. Sie preßte die Hände gegen die Schläfen und lauschte auf das Pochen ihres Herzens. Sie hatte Angst!
Dieses Warten schien eine Ewigkeit zu dauern. Dann waren plötzlich Schritte auf dem Flur zu hören, die Tür wurde aufgerissen, und Sébastien trat herein.
»Zwei von den Knechten kamen erst spät vom Markt zurück. Sie fanden etwa eine Meile von hier zwei tote Männer und eine Frau neben dem Weg. Ihre Kleider und die Kutsche mit allem Gepäck waren gestohlen. Die Knechte wollten den Heuwagen holen, um die Leichen zum Kirchhof zu schaffen, doch dann kam Félix dazu und hat es verboten. Jetzt haben sie eine Wache bis zum Morgen eingeteilt, damit kein Unbefugter den Hof betritt. Die Knechte sagen, daß die preußische Armee bereits auf Paris vorrückt, um die Besatzungstruppen gegen die Aufständischen zu unterstützen.« Sébastien seufzte. »Wie es scheint, hat das Morden noch lange kein Ende.«
»Das alles ist so schrecklich!« Mélanie sank auf das Bett, und Sébastien setzte sich neben sie.
»Es wird stündlich gefährlicher zu reisen, und auch die belgische Grenze wird mehr und mehr besetzt. Wenn wir die Manuskripte und Journale in Sicherheit bringen wollen, müssen wir schnellstens das Land verlassen.« Er legte den Arm um Mélanie, und sie ließ ihren Kopf auf seine Schulter sinken. »Ich dachte, wir könnten den Weg über St. Quentin nach Mons nehmen, aber jetzt halte ich es für klüger, Richtung Calais zu fahren.«
Plötzlich griff Mélanie nach seiner Hand und führte sie an ihre Wange. »Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber vor dem, was man mir antun könnte. Ich habe Angst, daß man mir die Würde nimmt, daß man mir möglicherweise die Kleider vom Leibe reißt, daß ich im Straßengraben verrecken muß wie ein Tier und nicht neben Samuel begraben werden kann. Und ich habe Angst, schreckliche Angst um die Manuskripte!«
Sébastien legte sich hin und zog Mélanie in seine Arme. Er deckte sie zu und hielt sie fest. »Wer uns auch immer begegnet – ich werde nicht zulassen, daß dir so etwas angetan wird.«
Sie richtete sich auf, beugte sich über ihn und sah ihn fest an. »Ich habe gesehen, daß du eine Pistole im Gürtel unter der Weste trägst. Versprich mir, daß du meinem Leben ein Ende setzen wirst, bevor man mich quält oder schändet.«
»Aber …«
»Bitte, versprich es.«
Sie sahen sich lange und schweigend in die Augen, und endlich nickte Sébastien. »Ja, ich verspreche es.«
Mélanie beugte sich über ihn und küßte seine Lippen. »Was sind das nur für Zeiten! Es ist unsere erste gemeinsame Nacht, und wir denken an den Tod.«
»Du denkst an den Tod – ich denke an die Liebe.«
»Ach, Sébastien …« Sie schmiegte sich an ihn. Seine Nähe, seine Wärme, die Liebe, die er für sie empfand, gaben ihr Trost – wenigstens bis zum Morgengrauen.
Jacques klopfte an die Tür, kaum daß es dämmerte. »Monsieur, ich habe angespannt, wir können abfahren, sobald Sie es wünschen. Ein Frühstück steht auch schon bereit.«
»Danke, Jacques, wir kommen.«
Sébastien strich Mélanie eine Haarlocke aus der Stirn, küßte sie und stand auf.
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