Hahnemanns Frau
schoß auf den Jungen. Zugleich schrie er: »Los – fahr, Jacques! Los!«
Der Junge war am Arm getroffen. Er ließ die Mistgabel fallen und taumelte zur Seite. Jacques knallte mit der Peitsche. Eines der Pferde stieg im Geschirr, doch dann preschten sie los.
»Hüh – hüh-hot!« Jacques schlug erbarmungslos auf die Tiere ein.
Der ältere der Männer, aufgeschreckt und voller Haß, schoß zuerst der Kutsche nach, dann auf Sébastien. Die Kugel traf ihn über dem Herzen. Er brach zusammen und blieb auf dem Rücken liegen.
Durch das Blattwerk der Bäume sah Sébastien über sich den Himmel. Er war wolkenlos und blau. Die Bäume drehten sich; ein rasendes Kaleidoskop. »Kein Glück ohne Abschied«, dachte er. Dann wurde es schwarz um ihn. Ein Lächeln lag auf seinem Mund – er hatte sein Leben für Mélanie geopfert.
Eine schier endlos scheinende Ewigkeit raste die Kutsche dahin, bis Jacques es endlich wagte, sich in die Zügel zu stemmen und die Rösser anzuhalten. Zitternd und mit schäumender Brust standen die Pferde da und atmeten stoßweise aus geblähten Nüstern. Jacques drehte die Bremse ein und kletterte vom Bock, dann öffnete er die Tür des Wagens, um nach Mélanie zu sehen.
»Gott sei's gedankt, es ist Ihnen nichts geschehen!« Er zog den Hut und schlug ein Kreuz. »Wir sind in Belgien, Madame.«
Mélanie starrte ihn kreidebleich an. »Warum bist du ohne ihn gefahren?«
»Er hat es so befohlen.«
»Er hat es so befohlen …«, wiederholte Mélanie flüsternd.
Sie legte ihre Hand auf die Kiste, in der das Manuskript aufbewahrt war, und schloß die Augen. Tränen rannen über ihr Gesicht. »Kein Glück ohne Abschied«, sagte sie leise, »wie kann ich dir je danken, Sébastien.«
Nachwort
Nicht nur zu Lebzeiten, auch heute noch wird Mélanie Hahnemann vorgeworfen, sie sei eine Querulantin gewesen und habe die Manuskripte ihres Mannes böswillig und aus Habgier zurückgehalten. Letzteres ist schon deshalb unsinnig, weil sie sich durch den Verkauf der Manuskripte ihr schweres Leben bedeutend hätte erleichtern können.
Ihre Kritiker stützen sich auf alte Zeitungsberichte, Dokumente und Briefe von Zeitzeugen. Sie vergessen dabei aber, in welcher Epoche Mélanie Hahnemann lebte und daß all diese Schriftstücke entweder von Männern oder von voreingenommenen Familienmitgliedern verfaßt wurden. Eine Frau wie Mélanie Hahnemann, die sich nicht nur gegen die Ärzteschaft stellte, sondern auch für die Rechte der Frau eintrat, weckte zu ihrer Zeit Empörung und zog sich den Unmut und die Feindschaft der Öffentlichkeit zu. Ich hoffe, es ist mir mit dieser Romanbiographie gelungen, ihre Situation so darzustellen, wie sie der Zeit entspricht, und das schlechte Licht, in das Mélanie Hahnemann von ihren voreingenommenen Kritikern gestellt wurde, zurechtzurücken.
Ich habe mich bei meiner Arbeit in großen Zügen an die Tatsachen gehalten. Mélanie reiste allein und als Mann verkleidet nach Köthen, auch die Rückreise nach Paris unternahm sie wieder in Männerkleidung. Es entspricht der Wahrheit, daß ihr Dr. Samuel Hahnemann bereits nach drei Tagen einen Heiratsantrag machte, Mélanie konvertierte und die Hochzeit aus den genannten Gründen heimlich vorbereitet wurde. Den Gesprächen im Pariser Wartezimmer liegen Patientenberichte zugrunde, die Berühmtheiten, die ich erwähne, waren tatsächlich Freunde oder Patienten der Hahnemanns und gingen bei ihnen ein und aus, und auch die Behandlung Paganinis brach Samuel aus Eifersucht ab.
Vor allem um Samuels Tod wurde ein Netz von Gerüchten gewoben. Böse Zungen behaupteten, Mélanie hätte ihren Mann ›zusammen mit ihren ehemaligen Liebhabern‹ lieblos verscharrt. Das Gegenteil war der Fall. Sie zerbrach beinahe an Samuels Tod, ließ seine Leiche einbalsamieren und behielt sie so lange wie irgend möglich bei sich. Weil sie sich nicht in der Lage fühlte, eine große Beerdigung mit all dem damals üblichen Tamtam auszurichten, beerdigte sie ihn frühmorgens und heimlich in engstem Kreise in ihrer Familiengruft.
Es wurde auch tatsächlich ein Prozeß gegen sie angestrengt, weil sie als Frau und ohne Erlaubnis praktizierte, und sogar die Geschichte mit dem Erfinder entspricht den Tatsachen. An ihn verlor sie das wenige, das von ihrem Besitz noch geblieben war.
Sehr erstaunt war ich, als ich bei meinen Recherchen entdeckte, daß Hahnemann eine Enkelin hatte, die, wie ich, Angeline hieß, und ich konnte es nicht lassen, ihr in meinem Buch eine kleine
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