Hahnemanns Frau
Holzbank und starrte blicklos ins Wasser. Mélanie, nun wieder in Männerkleidung, ging zu ihr und reichte ihr die Hand.
»Es ist hier draußen zu kalt für Sie, Madame. Ich begleite Sie in die Gaststube. Etwas heißer Tee wird Ihnen guttun.«
Sabine folgte ihr willenlos, aber an der Tür brach sie plötzlich zusammen. Man trug sie in ein kleines Nebenzimmer. Die Wirtin brachte ein Glas heiße Milch, zur Hälfte mit dem Saft vom Holunder vermischt, und versuchte es der Kranken einzuflößen.
Delacroix stand blaß daneben. »Wir brauchen einen Arzt«, rief er.
Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Einen Arzt gibt es hier nicht. Wir sind Leute vom Land, wer von uns könnte sich solche Dienste schon leisten.« Sie richtete sich auf und sah Delacroix an. »Aber glauben Sie einer erfahrenen Frau und Mutter von neun Kindern, ein Arzt könnte da auch nicht mehr helfen.«
»Ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gebeten«, wies er sie grob zurecht und verließ das Zimmer. Draußen rief er nach dem Kutscher, damit der sich mit dem Anspannen beeilte. »In Trier«, hörte Mélanie ihn schimpfen, »wird es doch einen Arzt geben!«
Bisher war sie in dem kleinen, dunklen Raum abseits gestanden. Nun ging sie zu der Bank, auf die man Sabine gebettet hatte, und schickte die Wirtin mit einem Vorwand hinaus. Dann nahm sie das Gesicht Sabines in beide Hände und küßte deren kalte Stirn.
»Sie sind doch noch so jung – viel zu jung, um zu sterben.«
Sabine schlug die Augen auf und sah Mélanie mit einem verklärten Lächeln an. »Ich habe keine Angst. Hier bin ich allein, aber dort habe ich mein Kind, meine Eltern, alle, die ich liebe. Nur eines bedauere ich – ich hätte Sie gerne früher kennengelernt. Immer habe ich mir eine Schwester gewünscht. Eine, die mutig und stark ist wie Sie und mich ein wenig beschützen kann.«
»Ja, ich bedauere es auch.« Mélanie drückte Sabines Hand an ihre Wange. »Ich hätte ganz sicher auf Sie achtgegeben, wie man es von einer älteren Schwester erwarten kann.« Sie zog Sabine in ihre Arme und sang leise ein Lied vom Sterben:
»Liebe Eltern, gute Nacht! Ich soll wieder von euch scheiden,
Kaum war ich zur Welt gebracht,
Hab genossen keine Freuden.
Ich, das kleinste eurer Glieder,
Geh schon fort, doch nicht allein,
Eltern, Schwestern und die Brüder,
Werden auch bald bei mir sein,
Weil sie wünschen, bitten, weinen,
Daß ihr Tag mag bald erscheinen …«
Und als sie den letzten Ton gesungen hatte, lag Sabine schon tot in ihren Armen.
Ein fremdes Land
Delacroix blieb mit dem Leichnam seiner Frau in dem Dorf zurück. Man würde eine Totenkutsche aus Luxembourg kommen lassen und Sabine in ein paar Tagen dort begraben. Mélanie war bis zur Weiterfahrt bei der Toten geblieben, hatte in ihr Reisetagebuch ein Porträt von ihr gezeichnet und darunter Ma petite sœur geschrieben.
Nun, wieder am Fenster der Kutsche sitzend, starrte sie auf die Weinberge entlang der Mosel. Es war eine fröhliche Landschaft. Das Laub fing bereits an, sich in allen Rot- und Gelbtönen zu verfärben. Noch am Vormittag hatte es geregnet, doch jetzt tanzten die Strahlen der Sonne zwischen den Blättern und ließen die Tropfen glitzern und wie Edelsteine erscheinen. Zur Ernte, schon in ein paar Wochen, würden alle mithelfen. Die Nachbarn, die Verwandten, die Kinder und Greise. Junge Frauen würden mit nackten Füßen die Trauben einstampfen und dazu derbe Lieder vom Wein und von der Liebe singen. Wie schade nur, daß Sabine das alles nicht mehr sehen konnte …
»Monsieur!«
Mélanie schrak aus ihren Gedanken und sah Henry Michelon an. Er war groß, hager und dunkelhaarig. Sein Anzug war neu und von teurer Qualität, aber seine Fingernägel waren schmutzig, und sein Blick und sein Grinsen wirkten abstoßend und feist.
Er saß ihr schräg gegenüber, dort, wo am Morgen noch Delacroix gesessen hatte, und hielt ihr eine Schnupftabakdose hin. »Lust auf eine Prise?«
Mélanie schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, Monsieur.«
Seit er in Longuyon zugestiegen war, war er für sich geblieben und hatte kaum ein Wort mit jemandem gewechselt. Aber nun, wo nur sie beide in der Kutsche saßen, starrte er sie unentwegt an, und sie begann sich unwohl zu fühlen.
»Und wohin reisen Sie?« fragte er.
»Nach Köthen, in der Nähe von Leipzig.«
Er nickte. »Ich kenne Leipzig. Geschäfte führen mich hierhin und dahin, manchmal auch in diese Gegend. Und wozu reisen Sie nach Köthen? Haben Sie Freunde oder Familie
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