Hahnemanns Frau
noch fast eine Stunde, bis sie vor der Posthalterei ankamen.
Inzwischen war es bereits dunkel. Die ersten Sterne funkelten am Himmel. Die Nacht war klar und würde kühl werden, der Sommer hatte sich endgültig verabschiedet.
Zwei junge Kerle, Knechte aus dem Wirtshaus, kümmerten sich um das Gepäck der Reisenden, und eine Magd machte Feuer in den Zimmern, die Mélanie, Henry Michelon und das Ehepaar Delacroix bezogen. Das Mädchen war hübsch und drall und warf ›dem jungen Herren‹, für den sie Mélanie hielt, kecke Blicke zu.
Auf der Treppe hörte Mélanie, wie Delacroix zu seiner Frau sagte: »Ich habe für heute abend eine Verabredung mit einem Geschäftspartner – Monsieur Pesin, Sie kennen ihn nicht. Ich werde veranlassen, daß man Ihnen ein Abendessen aufs Zimmer bringt. Sicher sind Sie müde und werden sich bald zu Bett legen?«
»Ja, gehen Sie nur, Monsieur, ich komme allein zurecht. Und bitte bestellen Sie nicht mehr als eine Tasse Brühe mit etwas Hühnerfleisch – und vielleicht ein kleines Glas trockenen Rotwein. Mehr brauche ich nicht.«
Auch Mélanie hatte keine Lust auf eine Table d'hôte, wie das Herumreichen der Schüssel am Tisch in der Gaststube genannt wurde, und bestellte ebenfalls ein Abendessen und ein Glas Wein auf ihr Zimmer.
Als das Mädchen serviert hatte und wieder gegangen war, aß sie etwas von der geräucherten Zunge und dem frischen Salat. Danach zog sie sich um und beschloß, Sabine aufzusuchen.
Mélanie hatte soeben den letzten Schluck Wein getrunken, als sie Delacroix auf der Treppe hörte. Sie wartete noch, bis sie sicher sein konnte, daß er das Gasthaus verlassen hatte, dann ging sie über den Flur und klopfte an Sabines Tür.
»Wer ist da?«
Mélanie fühlte, daß Sabine hinter der Tür stand, und sie spürte ihre Angst. »Ich bin es!« rief sie leise. »Bitte, öffnen Sie, ich muß mit Ihnen reden.«
»Monsieur Gohier?«
»Ja«, antwortete Mélanie.
Als Sabine öffnete und Mélanie in einem dunkelblauen Hauskleid vor ihr stand, riß sie den Mund auf, sagte jedoch nichts. Mélanie drängte sich an ihr vorbei ins Zimmer und schloß hastig die Tür.
»Monsieur … ich meine …«
»Nennen Sie mich einfach Mélanie.« Sie lächelte, drückte Sabine auf einen Stuhl und setzte sich neben sie. »Und ich nenne Sie Sabine – natürlich nur, wenn wir allein sind.«
Sabine gewann langsam ihre Fassung zurück. »Ich hatte nicht damit gerechnet, Sie so zu sehen. Ich meine, als Frau.«
»Nun, ich hatte auch nicht vorgehabt, mich jemandem so zu zeigen, aber ich konnte nun mal schlecht als Mann zu Ihnen aufs Zimmer kommen.« Sie legte Sabine eine Hand auf den Arm und sah ihr in die vom vielen Weinen verschwollenen Augen. »Sie sind einsam, ich bin es auch. Zumindest auf dieser Fahrt. Ich dachte, uns beiden ist gedient, wenn wir uns ein wenig näher kennenlernen.«
Sabine biß sich auf die Unterlippe. Ihr Kinn kräuselte sich, die Augen füllten sich mit Tränen. »Einsam«, flüsterte sie. »Ja, das bin ich.«
»Und krank«, fügte Mélanie an. »Ich mache mir große Sorgen um Sie.«
»Es ist …« Sabine stockte. »Es sind nur die Nerven.«
»Die Nerven! Mon Dieu!« rief Mélanie aus. »Die Nerven – das sagen sie immer, die Ärzte, wenn eine Frau erkrankt und sie nicht wissen, woran. Und dann lassen sie einen zur Ader!«
Sabine nickte. »Eine Woche vor Abfahrt bereits zum achten Mal – aber leider hilft es nicht.«
»Achtmal!« Mélanie und schlug die Hände zusammen.
»Viermal während der Schwangerschaft, viermal danach.«
»Während der Schwangerschaft?« Mélanie starrte sie an. »Ja, haben Sie denn ein Kind?«
Die junge Frau ließ das Kinn auf die Brust sinken. Ein paar Tränen fielen auf den mit hellroten Ornamenten bedruckten Musselin, aus dem ihr Hauskleid gefertigt war. »Ich hatte ein Kind. Es starb kurz nach der Geburt.«
Mélanie griff nach Sabines Hand. Sie war kalt und kraftlos. »Und wie lange ist das her?« fragte sie ahnungsvoll.
»Nun beinahe vier Wochen.«
Fassungslos starrte Mélanie die junge Frau an. Sie verstand plötzlich, warum Sabine so blutleer, so ausgelaugt, so kraftlos wirkte. Achtmal zur Ader gelassen in nur ein paar Monaten, und das, obwohl sie schwanger war und danach ihr Kind verloren hatte.
»Warum ließ Ihr Gatte Sie nicht zu Hause, damit Sie Zeit haben, wieder zu Kräften zu kommen? Mußten Sie ihn unbedingt auf so eine beschwerliche Reise begleiten?« In Mélanies Stimme schwang Unverständnis mit.
»Er
Weitere Kostenlose Bücher