Halbmondnacht
Stimme.
Schlitternd kam mein Bruder zum Stehen und packte auch Danny am Ärmel.
Jess, das ist zu gefährlich , ließ er mich wissen. Es gibt sicher noch einen anderen Weg hinein.
Mir bleibt keine Zeit, lange danach zu suchen. Wenn ich mit meiner ganzen Energie gegen die Torwächter-Ziege vorgehe, wird zweierlei Magie mit Macht aufeinandertreffen und sich entzünden. Ihr beide müsst sofort von diesem Felsvorsprung runter. Wenn ich drin bin, sucht ihr euch einen anderen Weg hinein.
Jess, nein , beharrte er. Wir klettern zum Gipfel hoch, und sehen zu, ob wir den anderen Eingang finden. Selene hat bestimmt mehr als einen Ein- und Ausgang zu ihrer Zuflucht angelegt.
Ich habe keine Lust, noch mehr Zeit zu verschwenden , erwiderte ich. Ich muss Rourke finden, und zwar sofort, basta. Bitte versteh doch: Das ist meine letzte Chance. Ich kann es spüren. Er braucht mich, und nichts kann mich jetzt noch davon abbringen, ihm zu Hilfe zu kommen. Ich will, dass ihr sofort von hier verschwindet. Tyler wollte nicht auf mich hören. Aber über unser neues Blutband konnte ich ihm einen Befehl erteilen. Tyler, geh sofort! Ich gebe dir dreißig Sekunden, um von hier zu verschwinden. Anderenfalls, fürchte ich, findet Selenes Magie doch noch ihren Weg in meinen Körper. Mir läuft die Zeit davon.
Tyler stieß Danny zur Kante des Felsvorsprungs. Sein Freund verstand sofort. Mit dem unverletzten Arm salutierte er vor mir und sagte: »Viel Erfolg, Jessica.« Beide wandten sich zum Gehen.
Über die Schulter warf mir Tyler einen letzten Blick zu und formte mit den Lippen die Worte: »Wir sehen uns drinnen.«
Genau, bis gleich. Ich wusste, dass Tyler einen anderen Eingang finden würde. Oder bei dem Versuch draufginge.
Dann waren die beiden aus meinem Blickfeld verschwunden.
Okay, dann mal los , sagte ich meiner Wölfin. Wir bündeln unsere Magie und richten sie gegen den Torwächter. Sobald wir den Bann gebrochen haben, sind wir drin. Sie bleckte die Zähne, ihre Augen glühten violett auf, ein Spiegelbild meiner eigenen. Sie war bereit.
Eins, zwei … drei … Magische Energie schoss aus mir heraus, so heftig, dass ich, bis ins Mark erschüttert, ins Taumeln geriet. Ich streckte die Arme aus, um mich zu fangen, mich irgendwo festzuhalten. Aber ich fand keinen Halt. Als kämen sie aus allen Poren, drangen überall Goldfäden aus meinem Körper. Als sie gegen den Kokon aus Selenes Magie trafen, zischte es, Funken sprühten. Ich fühlte mich erst recht eingeengt, genug, um Platzangst zu bekommen. Der Kokon oder was es war, in dem mich Selenes Magie eingefangen hatte, übte immer mehr Druck auf mich aus. Wie ein Amboss, gedacht, mir die Luft aus den Lungen zu pressen, lag mir diese Magie auf der Brust.
Das Atmen fiel mir zunehmend schwer. Ich schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Gleichzeitig versuchte ich, eigene Magie zu Wellen aufzubauen und diese gegen den Kokon anbranden zu lassen. Dieses blöde Ding würde gleich hochgehen, hoch hinauf in den Himmel, jawohl! Einen Sekundenbruchteil später hörte ich es knistern, und alles, was ich an Energie noch zusammenraffen konnte, schoss aus mir heraus wie Wasser aus einem Hydranten.
Meine Magie prasselte auf den Kokon ein und sprengte ihn in einer ohrenbetäubenden Explosion. Selenes Bann war gebrochen.
Kaum dass der Kokon fort war und mit ihm der Felsvorsprung, stürzte ich auch schon in die Tiefe. Instinktiv ruderte ich mit den Armen und schlug meine Klauen in den Fels, krallte mich mit aller Kraft fest. Und tatsächlich gelang es mir, den Sturz aufzuhalten und auch mit den Füßen auf einem schmalen Felssims ausreichend Halt zu finden. Nach dem Wahnsinnsknall klingelten mir immer noch die Ohren; mein Hörvermögen war stark beeinträchtigt: Mir waren wohl die Trommelfelle gerissen. Aber meine Ohren heilten schon wieder. Nachdem Selenes Zauberbann gebrochen war, wurden die Millionen von Goldfäden, die aus mir herausgeschossen waren, in meinen Körper zurückgezogen, allesamt auf einen Schlag. Wieder ging es mir durch und durch. Ich blickte nach unten, sah, wie jäh der Steilhang abfiel. Meine Finger bluteten, krallten sich aber immer noch in den Fels. Sie gaben uns den Halt, der nötig war. »Verdammte Hacke«, zischte ich, während die ungeheure Energie mich noch einige weitere Sekunden flutete und meine Wölfin gepeinigt heulte, ehe sich alles wieder beruhigte.
Minutenlang keuchte ich vor mich hin. Dann schüttelte ich den Kopf, als könnte ich mit dieser
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