Halbmondnacht
riskieren,Selene ohne das Kreuz in Händen zu wecken. Es war ja durchaus möglich, dass die Berührung durch meine Hände bei ihr eine Reaktion hervorriefe.
Eine Minute später hörte ich Naomis Ruf durch die Höhle schallen. »Eamon ist nicht hier.«
Überrascht sprang ich auf. »Was soll das denn heißen? Ich habe ihn da drüben umgebracht, das ist gerade mal zehn Minuten her.« Waren tatsächlich erst zehn Minuten vergangen? Gefühlt war genug Zeit verflossen, um ein ganzes Leben zu leben.
Naomi erhob sich weit in die Luft, flog zum Podest und landete auf dem Trümmerfeld. »Er ist nicht da.«
»Ich habe ihm das Genick gebrochen«, erklärte ich in beinahe schon anklagendem Tonfall. »Die Nervenverbindung zwischen Gehirn und Körper zu unterbrechen, reicht immerhin, um einen Wolf zu töten. Eamon ist wie tot zu Boden gefallen.«
»Leider reicht Genickbruch bei einem Vampir nicht immer.« Naomi schüttelte den Kopf. »Das Rückgrat muss vollkommen durchtrennt sein, und Kopf und Körper dürfen nicht mehr zusammenhängen. Wir sind ja schon tot, während ihr lebendig seid. Ihr braucht zum Überleben die körperinterne Kommunikation, wir nicht. Wir können alles wieder zusammenfügen, aber nicht ohne Kopf existieren. Das ist ein Umstand, der nicht allzu bekannt ist. Es war nicht deine Schuld, ma reine . Aber ich muss ihn jetzt erst suchen. Es gibt hier ein ganzes Labyrinth aus Tunneln.«
»Verfluchter Mist.« Erst jetzt ging mir auf, dass wir schon eine Weile kein Lebenszeichen mehr von Ray gehört hatten. Mir fiel alles aus dem Gesicht. »Naomi, er hat Ray! Er muss ihn sich geschnappt haben. Er braucht Blut, um sich zu regenerieren.«
Ehe sie antworten konnte, schnappte Selene, die immer noch zu meinen Füßen lag, heftig nach Luft und riss sich den Zauberpfeil aus dem Fleisch. Ihre Augen glühten rot. »Jetzt werdet ihr alle sterben!«
Sprach’s und verschwand.
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
O h, mein Liebster, hast du mich vermisst?«, kicherte Selene unmittelbar hinter Rourke. Offenkundig war sie zu demselben Kunststückchen fähig wie die geflügelten Teufel: Sie vermochte unvermittelt in unserer Dimension aufzutauchen und nach Belieben wieder zu verschwinden, indem sie zwischen den beiden Welten hin- und hersprang. Ich kannte mich mit Teleportation nicht aus und wusste nur, dass diese Fähigkeit selten war und in der Regel in Verbindung mit der Unterwelt stand. Es hatte etwas damit zu tun, dass man sozusagen im übertragenen wie wörtlichen Sinne einen Fuß in beiden Dimensionen zu haben in der Lage sein musste. Körpermasse zu transferieren war eine knifflige Sache.
Ich hatte gerade einmal Zeit zu blinzeln, da wälzten sich Rourke und Selene auch schon in erbittertem Kampf zu meinen Füßen. »Du wirst dich für deine Taten zu verantworten haben!«, donnerte Rourke; sein Tonfall verriet die Tiefe seines Grolls gegen die Mondgöttin. »Verstanden? Dieses Mal stirbst du den wahren Tod!« Ihre Lippen waren blutverschmiert. Dennoch grinste sie ihrem Gegner frech ins Gesicht. Er rammte ihr die Faust gegen den Kehlkopf, gerade in dem Moment, in dem sie sich wieder dematerialisierte. Rourke sprang wutschnaubend auf. »Sie wird schwer einzufangen sein«, knurrte er, »aber alles, was ich will, ist, ihr das Leben aus dem Leib zu prügeln!«
Tolle Aussichten: Selene würde Plopp! auftauchen und Plopp! wieder verschwinden und hätte ihren Spaß daran, uns herumzuschubsen wie ein Kätzchen ein Wollknäuel.
Magie schwirrte in der Kuppel umher und prallte von den Wänden ab. Zweifelsohne genoss Selene ihr neues Dasein als Unterweltschlampe. Wir alle wussten, was immer wir ihr antäten, es würde sie nicht umbringen. Mir wurde ganz flau im Magen bei dem Gedanken, sie könnte das exakt so geplant haben und die Zugabe bei diesem Spiel wäre, den ganzen Berg in die Luft zu jagen. Schließlich hatte sie damit vorhin schon einmal gedroht. Selbst wenn sie mit hochginge, hätte damit ihr letztes Stündlein noch lange nicht geschlagen.
»Wir müssen sie umzingeln«, flüsterte ich Rourke zu. »Wenn wir uns alle gleichzeitig auf sie stürzen, haben wir vielleicht eine Chance.« Tyler und Danny hatten sich Rücken an Rücken gestellt, um einander zu decken. Beide waren in höchster Alarmbereitschaft. Die Hände meines Bruders umspannten wieder die Spitzhacke. »Bisher habe ich alles, was sie an Magie aufzubringen vermochte, überwunden. Sie dürfte mich also nicht lange aufhalten können, wenn überhaupt. Bekomme ich sie
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