Halo
hier.»
«Tolle Idee», sagte ich sarkastisch. «Wenn es eine Person gibt, die Jake noch mehr hasst als mich, dann bist du das. Du kannst entweder mitkommen oder zu Hause bleiben, Xavier. Aber ich werde Molly auf jeden Fall helfen. Ich verstehe es, wenn du nicht mitmachen willst …»
Xavier bog scharf nach links ab und fuhr schweigend weiter. Vor uns zog sich die Straße schnurgerade dahin. Nach kurzer Zeit wurden die Häuser immer spärlicher.
«Wo immer du hingehst, gehe ich auch hin», sagte er.
Der Friedhof lag am Ende einer langen, breiten Straße kurz hinter der Stadt. Daneben verliefen stillgelegte Bahngleise, auf denen abgestellte Waggons vor sich hin rosteten. Die einzigen Gebäude in der Nähe bestanden aus einer Reihe von heruntergekommenen Stadthäusern, deren Balkons überwuchert und deren Fenster verrammelt waren.
Der Friedhof stammte aus den Gründungsjahren der Stadt, doch seitdem war er gemeinsam mit der Bevölkerungsanzahl gewachsen. Der neueste Teil enthielt glänzende Marmorstatuen und Schreine, die sämtlich gut gepflegt aussahen. In vielen der Schreine standen Fotos der Verstorbenen, umstellt von Weihkerzen in Milchglaslaternen, sowie kleine Altäre, Kruzifixe und Statuen von Jesus und der Jungfrau Maria, die die Hände zum Gebet faltete.
Xavier parkte sein Auto gegenüber an der Straße, ein Stück entfernt vom Haupteingang, damit wir nicht gleich die Aufmerksamkeit auf uns lenkten. Zu dieser Tageszeit standen die Tore noch offen. Wir überquerten die Straße und betraten den Friedhof. Auf den ersten Blick wirkte der Ort friedlich. Wir sahen eine einzelne Trauernde, eine ältere Frau in Schwarz, die eines der neueren Gräber versorgte. Sie putzte den Stein und ersetzte die verwelkten Blumen durch einen neuen Strauß Chrysanthemen, die sie mit einer Schere kürzte. Sie war so mit ihren Aufgaben beschäftigt, dass sie uns gar nicht sah. Der Rest des Friedhofs schien verlassen, abgesehen von ein paar Raben, die über uns ihre Kreise zogen, und dem sanften Summen der Bienen in den Fliederbüschen. Ich spürte die Anwesenheit verschiedener verlorener Seelen, die sich bei ihrem Grab aufhielten. Ich hätte gern angehalten und ihnen auf ihrer Reise geholfen, aber ich hatte dringendere Dinge zu tun.
«Ich weiß, wo wir sie vielleicht finden können», sagte Xavier, und er lenkte mich zum alten Teil des Friedhofs.
Hier sah alles vollkommen anders aus. Die Gräber waren alt und verlassen, die schmiedeeisernen Zäune verrostet. Efeu hatte alle andere Vegetation verdrängt und regierte nun ungehindert, indem es seine Tentakel wie Seile durch die Zäune schlang. Die Gräber waren schlichter und in die Erde eingelassen; manche besaßen nichts weiter als eine Plakette, um den Verstorbenen zu benennen. Ich sah einen Erdhaufen, der mit kleinen Windmühlen und Kuscheltieren geschmückt worden war, die längst ihre Farbe verloren hatten, und erkannte, dass es sich hier um Grabstellen für Kinder handeln musste. Ich hielt an, um eine der winzigen Plaketten zu lesen: Amelia Rose 1949 – 1949 , 5 Tage alt. Der Gedanke an diese kleine Seele, welche die Erde für nur fünf Tage hatte segnen dürfen, erfüllte mich mit unaussprechlicher Trauer.
Xavier und ich wanderten um die bröckelnden Grabsteine herum. Nur wenige waren noch intakt. Die meisten waren ins Gras eingesunken, ihre Inschriften waren verwittert und kaum noch lesbar. Andere Gräber bestanden aus nichts weiter als zerbrochenen Steinen und Unkraut. Hin und wieder kamen wir an einer Engelsstatue vorbei, manche davon riesig, manche klein, doch alle zeigten freundliche Gesichter und ausgebreitete Arme, als wollten sie einen willkommen heißen.
Während wir gingen, spürte ich die Körper der Toten unter diesen Decken aus zerbrochenen Steinen. Meine Haut kribbelte. Es waren nicht die Schläfer unter unseren Füßen, die mir Sorgen machten, sondern das, was uns hinter der nächsten Ecke erwarten mochte. Ich spürte Xaviers Vorwurf, weil er mit mir hierhergekommen war. Doch er zeigte keine Angst.
Plötzlich fuhren wir zusammen. Wir hatten Stimmen gehört. Sie schienen eine Art Klagelied zu singen. Wir schlichen weiter, bis die Stimmen lauter wurden, dann versteckten wir uns hinter einer hohen Birke. Als wir zwischen ihren Zweigen hindurchspähten, konnten wir eine kleine Gruppe von Menschen erkennen, etwa zwei Dutzend insgesamt. Jake stand breitbeinig und mit geradem Rücken auf einem moosigen Grab. Er trug eine schwarze Lederjacke, und um seinen
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