Halo
Gleichgewicht zu halten. Es ging ungefähr neun Meter tief steil hinab, doch die Höhe schreckte mich nicht. Ich wollte nur meinen Plan durchführen, das war alles, was ich hoffte. Ich spürte mein Herz rasen, es schien beinahe Salti in meiner Brust zu schlagen. In meinem Kopf brüllten sich zwei Stimmen an. Was tust du?, schrie die eine. Hast du den Verstand verloren? Geh runter, geh nach Hause. Es ist noch nicht zu spät für die richtige Entscheidung! Die andere Stimme war anderer Meinung. Du bist schon zu weit gegangen, sagte sie. Du kannst jetzt nicht mehr zurück. Du weißt, wie sehr du ihn willst – du wirst nie mit ihm zusammen sein, wenn du das jetzt nicht tust. Schön, dann sei ein Feigling und lass es, lass ihn sein Leben weiterleben und dich völlig vergessen. Ich hoffe, du genießt die ewige Einsamkeit.
Ich schlug mir die Hände vor den Mund, um nicht verzweifelt loszuheulen. Es machte keinen Sinn mehr, noch länger zu grübeln. Ich hatte meine Entscheidung getroffen.
«Du kannst die Augen öffnen», rief ich Xavier zu.
Er tat es und blickte sich erstaunt nach mir um, bevor er nach oben schaute. Ich winkte ihm zu, als er mich entdeckte.
«Was tust du da oben?» Ich hörte einen Anflug von Panik in seiner Stimme. «Beth, das ist nicht witzig. Komm sofort herunter, bevor du dich verletzt.»
«Keine Sorge, ich komme herunter», sagte ich. «Auf meine Art.»
Ich verlagerte mein Gewicht auf meine Ballen. Der raue Stein ritzte mir die Haut auf, aber ich bemerkte es kaum. Es fühlte sich an, als flöge ich bereits, und ich wünschte mir mehr als alles auf der Welt, wieder zu spüren, wie der Wind durch mein Haar blies.
«Hör auf damit, Beth. Rühr dich nicht vom Fleck. Ich komme und hole dich», hörte ich Xavier rufen, aber ich hörte ihm nicht mehr zu. Als der Wind durch meine Kleider fuhr, breitete ich die Arme aus und ließ mich von den Klippen fallen. Wenn ich ein Mensch gewesen wäre, hätte sich mir wahrscheinlich der Magen umgedreht, aber der Fall ließ nur mein Herz schneller schlagen und meinen ganzen Körper vor Aufregung vibrieren. Ich stürzte auf den Boden zu und genoss die beißende Luft an meinen Wangen. Xavier schrie und lief los, um mich aufzufangen, aber seine Bemühungen waren vergeblich. Dieses eine Mal musste ich nicht gerettet werden. Auf halbem Weg zum Boden ließ ich meine Arme sinken und wartete auf die Verwandlung. Ein blendendes Licht schoss aus meinem Körper, strahlte aus jeder Pore und brachte meine Haut zum Leuchten wie weißglühendes Metall. Ich sah, wie Xavier seine Augen schützte und zurückwich. An meinem Rücken breiteten sich meine Flügel aus. Sie sprengten meine Kleider, rissen den dünnen Stoff in Fetzen. Als sie weit ausgebreitet waren, warfen sie im Mondlicht lange Schatten auf den Strand, als wäre ich ein majestätischer Vogel.
Xavier hatte sich zusammengekauert, und ich wusste, dass ihn das pulsierende Licht blendete. Wie ich so über ihm schwebte und meine Flügel gegen den Wind kämpften, um mich in der Luft zu halten, fühlte ich mich ausgeliefert und nackt, aber gleichzeitig auch auf seltsame Weise freudig erregt. Ich spürte, wie sich die Sehnen in meinen Flügeln dehnten, als lechzten sie nach Bewegung. Sie waren in letzter Zeit so viel unter meiner Kleidung zusammengefaltet gewesen. Ich widerstand der Versuchung, höher zu fliegen und durch die Wolken zu tauchen, gestattete mir aber, einen Augenblick zu schweben, bevor ich zum Boden hinabsank und sanft im Sand landete. Das leuchtende Strahlen, das mich umgab, wurde schwächer, als meine Füße wieder Kontakt mit dem Erdboden bekamen.
Xavier rieb sich die Augen und zwinkerte, versuchte, wieder klar zu sehen. Dann schließlich erblickte er mich. Er taumelte mit fassungslosem Gesicht einen Schritt zurück, seine Arme hingen hilflos an ihm herunter, als ob sie etwas tun sollten, er aber nicht wusste, was. Mein Kleid hing in Fetzen an mir herunter, und aus meinem Rücken ragte ein Paar Flügel auf, federleicht, aber trotzdem voller Kraft. Mein Haar flatterte im Wind, und ich wusste, dass der Ring aus Licht, der meinen Kopf umgab, heller sein musste als je zuvor.
«Heilige Scheiße!», platzte Xavier hervor.
«Würdest du bitte nicht fluchen?», fragte ich höflich. Er starrte mich an, suchte nach Worten. «Ich weiß», sagte ich seufzend. «Ich wette, damit hast du nicht gerechnet.» Ich machte eine Handbewegung in Richtung Strand. «Geh ruhig, wenn du willst.»
Xavier stand für einen Moment
Weitere Kostenlose Bücher