Halo
bewegungslos da und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Dann ging er langsam um mich herum, und ich spürte, wie er mit seinem Finger ganz, ganz sanft über meine Flügel strich. Obwohl sie schwer aussahen, waren sie so dünn wie Pergament und wogen so gut wie nichts. Ich konnte ihm am Gesicht ablesen, dass er die Zartheit der Federn und die winzigen Verästelungen bewunderte, die unter der durchsichtigen Haut hindurchschimmerten.
«Wow», sagte er sprachlos. «Das ist so …»
«Abgefahren?»
«Unglaublich», sagte er. «Aber was bist du? Du bist doch nicht etwa …»
«Ein Engel?», fragte ich. «Doch, ganz genau!»
Xavier rieb sich die Nase, als ob er versuchte, dem Ganzen im Kopf einen Sinn zu geben. «So etwas gibt es nicht wirklich», sagte er schließlich. «Ich kapiere gar nichts.»
«Natürlich nicht», sagte ich. «Meine Welt und deine Welt sind unendlich weit voneinander entfernt.»
«Deine Welt?», fragte er ungläubig. «Das ist irrsinnig!»
«Was?»
«Dieses ganze Zeug ist doch alles nur ausgedacht. Das gibt es im wahren Leben nicht.»
«Es ist wirklich», sagte ich. «Ich bin wirklich.»
«Ich weiß», antwortete er. «Das Gruseligste daran ist, dass ich dir glaube. Entschuldige, aber ich glaube, ich brauche eine Minute …» Er sank mit einem so verzerrten Gesicht auf den Sand, als versuchte er, ein unmögliches Rätsel zu lösen. Ich stellte mir vor, was in seinem Kopf vorging. Es musste chaotisch sein. Er musste so viele Fragen haben.
«Bist du wütend?», fragte ich.
«Wütend?», wiederholte er. «Warum sollte ich wütend sein?»
«Weil ich es dir nicht schon früher gesagt habe?»
«Ich versuche gerade, es zu begreifen», sagte er.
«Das ist sicher nicht leicht. Lass dir Zeit.»
Er schwieg eine Weile. Das verkrampfte Heben und Senken seiner Brust verriet, dass in ihm ein Kampf tobte. Er stand auf und ließ seine Hand in einem Halbkreis um meinen Kopf wandern. Ich wusste, dass seine Finger die Wärme spüren mussten, die mein Heiligenschein ausstrahlte.
«Okay, Engel existieren also wirklich», räumte er schließlich ein, wobei er so langsam sprach, als ob er versuchte, es sich selbst zu erklären. «Aber was macht ihr auf der Erde?»
«Zurzeit sind Tausende von uns in menschlicher Gestalt über die Erde verteilt», antwortete ich. «Wir sind alle Teil einer Mission.»
«Was für eine Mission?»
«Das ist schwer begreiflich zu machen. Wir sind hier, damit sich die Menschen wieder einander zuwenden, einander wieder lieben.» Xavier blickte verwirrt, also versuchte ich es genauer zu erklären. «Es gibt so viel Wut in der Welt, so viel Hass. Das weckt die finsteren Mächte und lässt sie wachsen. Wenn sie erst einmal entfesselt sind, ist es fast unmöglich, sie zu zähmen. Es ist unsere Aufgabe, gegen das Schlechte zu kämpfen, zu verhindern, dass noch mehr Katastrophen geschehen. Venus Cove ist ziemlich schwer getroffen.»
«Du willst also sagen, dass die schlimmen Dinge hier wegen der finsteren Mächte passiert sind?»
«So ungefähr.»
«Und mit den finsteren Mächten meinst du den Teufel?»
«Na ja, jedenfalls seine Vertreter.»
Xavier sah aus, als ob er lachen wollte, stoppte sich aber selbst.
«Das ist verrückt. Wer hat euch denn auf diese Mission geschickt?»
«Ich dachte, das wäre offensichtlich.»
Xavier starrte mich ungläubig an.
«Du meinst doch nicht …»
«Doch.»
Xavier wirkte aufgewühlt, als wenn ihn ein Hurrikan herumgewirbelt und wieder zu Boden geworfen hätte. Er strich sich die Haare aus der Stirn.
«Willst du mir sagen, dass es Gott wirklich gibt?»
«Ich darf nicht darüber sprechen», sagte ich. Jetzt war der Punkt gekommen, das Gespräch abzubrechen, bevor es zu tief ging. «Manche Dinge können Menschen nicht begreifen. Ich würde in größte Schwierigkeiten geraten, wenn ich versuchte, mehr zu erklären. Wir sollten nicht einmal seinen Namen aussprechen.»
Xavier nickte.
«Aber es gibt ein Leben nach dem Tod?», fragte er. «Einen Himmel?»
«Ohne Zweifel.»
«Also …» Er rieb sich nachdenklich das Kinn. «Wenn es einen Himmel gibt, dann vermutlich auch … Es muss also auch …»
Ich stoppte seine Gedanken. «Ja, das auch. Aber bitte frag nicht weiter.»
Xavier massierte seine Schläfen, als suchte er nach einer Möglichkeit, all diese Informationen zu verarbeiten.
«Es tut mir leid», sagte ich. «Ich weiß, dass es überwältigend sein muss.»
Er ignorierte meine Entschuldigung, er war zu sehr darauf
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