Haltlos
quälende Schuldgefühle zu sprechen. Dann würde es garantiert das letzte Treffen dieser Art gewesen sein. Durch die lockere Unterhaltung verging die Zeit schneller als es Tessa lieb war. Auch Mike schaute auf seine Uhr, aber es wirkte nicht so, als wolle er unbedingt gehen. Nachdem sie Antonio anzeigten, dass sie gehen wollten, brachte dieser gleich das Essen für Josh mit und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu „Ich setze es auf die Rechnung!“ Mike half Tessa in ihre Jacke, ließ ihr beim Hinausgehen den Vortritt und bot ihr seinen Arm dar. Tessa war sich unschlüssig, ob sie sich einhaken sollte, tat es aber letztendlich doch. Beide gingen so noch gemeinsam bis zur nächsten Kreuzung. Dort pfiff Mike für sie ein Taxi heran, öffnete die Tür, gab dem Fahrer die Adresse von Tessas Anwesen und verabschiedete sich von ihr „Danke, dass Du mich heute zweimal gerettet hast!“ Tessa verstand nicht gleich, wie er es meinte. Diese Ratlosigkeit spiegelte sich anscheinend auch auf ihrem Gesicht wieder, denn Mike fügte unaufgefordert hinzu „Zum einen hast du mich vor einem sehr schmerzhaften und obendrein noch peinlichen Sturz bewahrt, und zum anderen bin ich Dank dir auch zum Essen gekommen und musste so keinem qualvollen Hunger leiden!“ Er warf ihr ein charmantes Lächeln entgegen. Völlig irritiert, ob dieser schnuckelige Typ aus reiner Höflichkeit so nett zu ihr war, oder ob er tatsächlich mit ihr flirtete, brachte sie beim einsteigen nichts anderes hervor als „Gern geschehen, war mir ein Vergnügen!“ Von diesem Tag an besuchte Tessa Josh nur allzu gerne zu den unmöglichsten Zeiten im Büro. Besser gesagt zu Zeiten, wo sie wusste, dass er entweder andere Termine hatte oder sich auf Sitzungen bzw. Verhandlungen vorbereiten oder sich mit anderem Anwaltskram befassen musste. So konnte sie fast immer davon ausgehen, dass sich Mike ritterlich zu ihrer Rettung bereit erklärte und sie zum Lunch ausführte. Aus Lunch wurde ein Dinner, aus den Besuchen in Restaurants wurden Kinobesuche, auf der Kirmes oder in Galerien. Sie fuhren zum Strand und besuchten Strandbars. Als sie eines Abends nach einem Kinobesuch noch durch die Straßen schlenderten, was sie nebenbei oft taten, da keiner von beiden den anderen gehen lassen wollte, verlangsamte Mike sein Schritttempo. Zunächst liefen sie etwas langsamer, aber Tessa spürte, dass Mike sich über etwas unschlüssig war. Dann plötzlich blieb er stehen, drehte sich zu ihr um. Er umfasste ihr Kinn und hob es leicht mit den Fingern seinem Mund entgegen. Tessa wusste nicht wie ihr geschah, es blieb ihr keine Zeit zum Nachdenken. Sie hatte sich so oft vorgestellt, wie es wohl sein würde, wenn es dazu käme, dass Mike sie küsste. Aber tat er es jetzt gerade in diesem Augenblick wirklich? Ihr wurde heiß und kalt zugleich. In ihrem Bauch kribbelten tausend Schmetterlingen mit ihren flatternden Flügeln, ihre Knie drohten nachzugeben. Sämtliche Nervenenden ihrer Haut standen unter Strom, so dass ihr Körper zu vibrieren schien. Und dann beugte sich Mike näher zu ihr. Tessa schloss die Augen und ließ sich einfach treiben, war voller Vorfreude auf das, was sie erwartete. Sie spürte seine weichen, warmen Lippen auf ihrem Mund. Erst vorsichtig zögernd. Dann, als Tessa durch ihre Erwiderung Mike unmissverständlich zu Verstehen gab, dass sie nichts sehnlicher wollte, als ihn zu küssen, hielt auch er sich nicht mehr zurück. Es wurde ein langer, leidenschaftlicher und hemmungsloser Kuss. Nein, dieser Kuss hatte definitiv nichts Unschuldiges an sich. Das war die Geschichte. So lernte sie Mike kennen und lieben. Perfekt! Jeglicher Zweifel darüber, ob sie bereit für den nächsten Schritt oder ob er der Richtige ist, war wie weggewischt, als sie an ihre ersten Treffen dachte. Als es zur Pause läutete, zuckte Tessa kurz zusammen. Hatte sie tatsächlich die ganze Stunde über ihren Gedanken nachgehangen? Wie unangenehm, hoffentlich ist es niemanden aufgefallen, dass sie nicht bei der Sache war. Eilig packte sie ihre Bücher, Hefte und Stifte zusammen, verstaute alles in ihrem Rucksack und verließ mit den anderen Schülern den Fachraum.
3.
Als sie den Gang zur Mensa förmlich runter rannte, weil sie ein wenig getrödelt hatte, sah sie aus dem Augenwinkel eine ihr nur allzu bekannte Gestalt. Tessa hielt mit dem Laufen inne, sah sich um und bog in einen vom Hauptflur abgehenden Seitengang ein, an dessen Ende sich die Tür zu einer der Jungentoilette war. Wenn sie sich jetzt
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