Halva, meine Sueße
dem Treppenabsatz im vierten Stock blieb Wilhelm
plötzlich stehen, drehte sich zu Leo um und hielt sich einen
Finger vor den Mund. Leo erstarrte und blieb wie angewachsen
stehen, während Wilhelm zum dritten und dann zum
zweiten Stock hinunterschlich. Zwischen den Metallstäben
sah Leo, wie sein Freund über das Geländer nach unten spähte.
Irgendwo hallten Schritte, aber Leo war der Blick durch die
Treppe versperrt. Wilhelm schien dagegen umso mehr zu
sehen. Er schaute nach oben, als hätte er Leos Blick im Nacken
gespürt, und machte ein wedelndes Zeichen mit der Hand.
Leo schlug das Herz bis zum Hals, dann begriff er und schlich
zurück in den fünften Stock. In diesem Augenblick setzte die
Sirene wieder ein und schluckte seine Schritte.
Ein paar Augenblicke später war Wilhelm bei ihm.
»Was ist los?«, flüsterte Leo trotz der Sirene. »Der Luftschutzwart?«
»Von wegen«, gab Wilhelm leise zurück. »Zwei von der SS.
General Heldenklau braucht noch Leute. Die durchkämmen
das Haus.«
»Zum Dachboden?«
»Was sonst? Beeil dich, sie sind noch im Keller.«
Der Dachboden war die letzte Zuflucht. Vom obersten Absatz
aus hatte eine Holztreppe nach oben geführt, die Wilhelm
entfernt und durch eine Strickleiter ersetzt hatte, nachdem
Leo zu ihm gekommen war. Wenn die Strickleiter oben
und die Luke geschlossen war, sah es fast so aus, als gäbe es
keinen Aufgang. Natürlich konnte man die Luke erkennen,
wenn man genau hinsah, und sicherlich mussten ungebetene
Besucher irgendwann darauf kommen, dass der Weg zum
Dachboden nur über diesen Treppenabsatz führen konnte.
Aber man gewann Zeit, um die Strickleiter verschwinden zu
lassen und die Rückwand von der großen Kiste abzuziehen,
die ganz hinten in der Ecke unter der Dachschräge stand. Die
Kiste hatte einen doppelten Boden. Der obere Teil war mit
Löschsand gefüllt, der untere Teil barg einen Hohlraum, in
den man von hinten hineinkriechen konnte. Wenn man dann
von innen die Rückwand wieder davorzog, war man praktisch
unsichtbar, denn wer den Deckel der Kiste öffnete, sah nichts
als Sand.
Leo folgte Wilhelm nach oben. Sie zogen die Leiter ein und
warteten, bis die Sirene wieder aussetzte. Unten im Haus war
Türenschlagen zu hören, eine Stimme rief etwas wie zur Bestätigung,
dann folgten wieder Schritte auf der Treppe.
»Klappe zu und zum Unterstand. Das ist sicherer«, sagte
Wilhelm knapp und schloss die Luke. Leo sah, dass er angespannt
war, auch wenn er es sich nicht anmerken lassen wollte.
Sie gingen zu dem Unterstand für den Luftschutzwart, der
wie ein winziges Häuschen mit einem Dach aus Stahlplatten
unter den Dachfirst gezimmert war. Ein schwacher Schutz,
aber besser als gar keiner.
Wilhelm hockte sich hinter Leo auf einen Balken und
blickte durch die schmale Öffnung im First nach draußen.
»Keine Sorge«, sagte er direkt neben Leos Ohr. »Sie kommen
schon nicht hierher.«
Leo fragte sich, ob Wilhelm die meinte, die das Haus bombardieren
wollten, oder die, die es gerade durchsuchten.
Die Sirene verstummte.
Und dann kamen die Flugzeuge.
Dr. Michael Römling
Schattenspieler
Jugendbuch
ISBN (Buch) 978-3-8157- 5307 -1
ISBN (eBook) 978-3-649- 61240 -7
www.coppenrath.de
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