Hamburger, Hollywood & Highways
etwas mehr Ruhe fuhr ich hinab nach Chatham. Dort hatten zahllose Meeresbuchten, Seen, Teiche, Kanäle und Flüsschen eine ganz eigene Welt geschaffen. Ich fand einen einsamen Sandstrand, setzte mich, schaute hinaus auf den Atlantik. Dieser Teil von Kap Kabeljau lag auf dem 42sten Grad nördlicher Breite. Könnte ich auf ihm spazieren wie über eine Brücke, käme ich nach Madrid, nach Neapel, nach Ankara. Zum ersten Mal seit Monaten befiel mich so etwas wie Heimweh nach Europa – vielleicht, weil man an kaum einem anderen Ort Amerikas dem alten Kontinent näher ist. Außerdem wusste ich, dass meine Reise zu Ende ging. Ich hatte noch ein Ziel, das war Boston. Dann würde ich in einen Flieger steigen, nach New York zurückkehren, um …
Ich erhob mich. Genug gegrübelt. Ein letzter Blick übers Wasser, den großen Teich, wie man den Atlantik zu Zeiten nannte, als Schiffe Mensch und Material in die Neue Welt brachten. Wie gerne hätte ich eine Überfahrt gemacht, was mir bisher stets verwehrt geblieben war. Vor einigen Jahren war es fast soweit gewesen: Ich hatte schon meine Kabine auf einem Containerschiff gebucht, der Rucksack war gepackt, die Kotztüten ebenfalls – ich wusste damals noch nicht, ob ich Seemannsbeine hatte. Da klingelte das Telefon, und die freundliche Frau der Schiffsagentur teilte mir mit, wie leid es ihr tue, aber die Route des Schiffs sei verlegt worden. Das ist nichts Ungewöhnliches, eine Fahrt auf einem Containerschiff ähnelt immer einem Lotteriespiel. Dieses Mal sollte mehr dahinter stecken. Wäre das Schiff gefahren, hätte es am Morgen des 11. Septembers 2001 in New York angelegt.
Über Boston steht im schlauen Buch, es sei die europäischste Stadt Amerikas. Das ist Unsinn, denn es gibt keine europäischen Städte in Amerika. Die Vereinigten Staaten mit Europa zu vergleichen führt immer auf den Holzweg. Amerika ist von Europa so verschieden wie Afrika von Europa oder Asien von Europa oder Australien von Europa. Der Bund, die altehrwürdige Prachtstraße von Shanghai, ruft mehr Erinnerungen an London und Paris hervor als Bostons Franklin Street. Trotzdem brachte mich eine Geschichte in die Hauptstadt von Massachusetts, die auf dem Alten Kontinent begonnen hatte, und über Moskau, Wien und Rom auf den Kennedy-Flughafen in New York führte. Sie brachte alle Sehnsüchte von Immigranten und ihre Erwartungen an das Hoffnungsland Amerika zur Geltung. Verfasst hatte sie Maxim D. Shrayer, der zwanzig Jahre lang in der Sowjetunion lebte, bis seine Familie auswandern durfte. Seine Erlebnisse fasste er im Buch „Waiting for America – A Story of Emigration“ zusammen. Wie so vielen ging es auch den Shrayers zunächst weniger ums „Wollen“ als ums „Müssen“. Maxim's Vater hatte Kritik am Regime geäußert, danach brachte die jüdische Familie keinen Fuß mehr auf den Boden. Zwei Möglichkeiten kamen in Betracht: Entweder nach Israel, oder in die USA. Nur war das alles gar nicht so einfach.
„Neun Jahre lang waren wir othkazniks “, sagte Maxim. „Das bedeutet: Die, die abgelehnt werden. Denen man die Ausreise verweigert. Als othkazniks in der Sowjetunion zu leben war die Hölle.“
Wir saßen in seinem mit Büchern überfüllten Büro am Boston College. Maxim leitete dort die Abteilung für Slawische und Östliche Sprachen und hatte eine Professur für Russisch und Englisch.
„Als wir nach Amerika flogen“, sagte er, „sprach ich ein paar Worte Englisch. Unser Besitz passte in fünf Koffer. Unsere Pässe waren ungültig. Wir waren wortlos, besitzlos, staatenlos.“
Aber nicht kraftlos. Es kam, was Amerika in vielen Einwanderern weckt: Das Gefühl, es schaffen zu können.
„Ich hatte es vom Moment an“, fuhr Maxim fort, „als der Offizier des Immigration and Naturalization Service INS, also der Einwanderungsbehörde, am Kennedy- Flughafen seinen Stempel auf das Visa setzte.“
Er holte ein Dokument aus der Schublade. Es war säuberlich in Klarsichtfolie verpackt. Darauf war zu lesen:
„ADMITTED AS A REFUGEE PURSUANT TO SEC. 207 OF THE I&N ACT. IF YOU DEPART THE U.S., YOU WILL NEED PRIOR PERMISSION FROM INS TO RETURN. EMPLOYMENT AUTHORIZED.”
Maxim deutete auf die letzten beiden Worte. „Um ehrlich zu sein, konnte ich es nicht lesen. Bis auf „Employment“, Arbeit, und „authorized“, berechtigt. Das hat genügt.“
Erst diese beiden Zauberworte machen den American Dream möglich. Es geht nicht nur um Arbeit, sondern um die Möglichkeit, sich fortzubilden, eine
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