Hamburger, Hollywood & Highways
umging, wie man wusste, und vielleicht hatte er in dieser mysteriösen Nacht einen Abstecher zu den Willis gemacht. Jedenfalls fand man Mama Willis – über die keiner viel wusste, weil sie aus unerklärlichen Gründen 30 Jahre lang das Haus nicht verlassen hatte – tot auf. Tot lag auch ihr Sohn neben ihr, während man den zweiten Sohn erst Tage später fand. Nach offiziellen Angaben war er in einem Seitenarm des Eight-Mile- Rivers ertrunken – an einer Stelle mit zehn Zentimetern Wasserhöhe. Es war der entfernte Verwandte gewesen, der die Unglücklichen fand, und der Anblick des Verbrechens brachte ihn um den Verstand.
„Keiner weiß, was wirklich geschah“, sagte John. „Aber Mama Willis Geist fuhr in den Baum. Von da an war das Gesicht zu sehen.“
Ich fand, dass auf einmal unangenehm kalt geworden war. Ein Bierchen in den gemütlichen Häusern von I-Park wäre sicher keine schlechte Idee. Doch John hatte andere Pläne.
„Willst du den Friedhof der Willis sehen?“, fragte er. Wollte ich eigentlich nicht. Aber ich ging mit, und die Sache sollte sich lohnen. Nach strammen Fußmarsch erreichten wir eine Lichtung. Vor mir zog sich ein sanfter Hügel talabwärts, darauf konnte ich zwei Dutzend uralter Grabsteine erkennen. John führte mich über den Friedhof. Auf jedem zweiten Stein war der Name Willis eingemeißelt.
„Alle die hier liegen“, sagte John, „sind um ein paar Ecken miteinander verwandt.“
„Ist denn die ganze Familie ausgestorben?“, fragte ich. John gab keine Antwort. Erst nach einiger Zeit sagte er: „Weißt du, die Willis kamen mit der Mayflower. Sie gehören zu den ersten Amerikanern.“
Plötzlich ging mir ein Licht auf. „Bist du etwa …?“, fragte ich, und John nickte.
„Der Letzte“, sagte er. Er ging einige Schritte bergab.
„Hier“, fuhr er fort, „will ich begraben werden.“
„Prima Platz“, sagte ich, und empfand es auch so. Schöne Aussicht, gute Luft, die Familie um sich – was will man mehr?
Aber John schaute unglücklich drein. „Die Behörden sind dagegen. Der Friedhof ist längst aufgelassen.“
Auf dem Rückweg war er nicht mehr so gesprächig. Er sagte nur noch: „Aber ich kämpfe darum. Auf diesem Friedhof will ich begraben werden. Das ist mein Lebensziel.“
Amerika ist ein guter Ort, um über Leben und Tod, Entstehung und Vergänglichkeit nachzudenken. Europa ist auch ein guter Ort dafür, aber Amerikas Vorteil besteht darin, seine Geschichte kompakt zu haben. Mal ehrlich, wer weiß denn noch, wann bei uns der Wiener Kongress war, Karl der Große König des fränkischen Reiches wurde, oder der Investiturstreit statt fand? Fragen über Fragen, die uns schon im Geschichtsunterricht Angstperlen auf die Stirn trieben. Die amerikanische Geschichte dagegen ist kurz und knackig, zumindest gemessen von der Besiedlung durch die Europäer. Im Westen kaum älter als 200 Jahre, im Osten um die 400. Das Ankommen, Ansiedeln, Kämpfen, Aufgeben, Weiterziehen oder das Siegen und Bleiben ist in wenigen Generationen erzählt. In Wyoming auf einen zu treffen, dessen Großvater mit General Custer ritt, ist keine Unmöglichkeit. Im Osten direkte Nachfahren der Pilgerväter kennen zu lernen, auch nicht. Einige von denen zählen noch immer zu den WASPs, White Anglo-Saxon Protestants – so genannt wegen ihrer weißen Hautfarbe, ihrer englischen Abstammung und ihres protestantischen Glaubens. Sie stellen einen Teil der amerikanischen Elite. Wobei dieser Terminus nicht unbedingt ein Äquivalent zum IQ sein muss, dafür immer einer zur Macht.
Nachdem mich John heil zurückbrachte, nahm mich Ralph unter seine Fittiche. Mittlerweile dämmerte es, doch was er mir zeigen wollte, lag nicht weit von den Häusern entfernt. Vielleicht, weil in den USA Historie so kompakt ist, gehört Reflektion nicht zu den Stärken der Amerikaner. Der Schriftsteller Aleksandar Hermon führt in seinem Roman „The Lazarus Project“ eine weitere gute Erklärung an: In einem Land, in welches ständig Einwanderer strömen, die nur ein „davor“ und ein „danach“ kennen, ist Zukunft wichtiger als Vergangenheit. Sich zu erinnern, ist nur ein Störfaktor. Ralph sah aber die Nachteile, welche die Unkenntnis der eigenen Geschichte mit sich bringt. Daher rief er ein Projekt ins Leben, welches einzigartig auf dem Kontinent sein sollte. Er nannte es „Thanatopolis“, und es reflektierte die persönliche Geschichte eines Menschen. Im Grunde genommen war es eine Art Friedhof, auf dem man sich
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