Handbuch für anständige Mädchen
Elfen. Engel. Sogar einen Inkubus. So manche dieser ätherischen Wesen würde ich nur zu gern sehen. Vielleicht wird dieser Fotografenmensch so entgegenkommend sein?«
»Geister und Elfen?«, donnerte Mr Talbot. »Wirklich, Mutter! Hier geht es um Wissenschaft, nicht Fantasie. Chemie und Optik, nicht die absurden Träumereien eines romantischen Geistes.«
»Es heißt, viele dieser unwirklichen Bilder entstehen, wenn sich das menschliche Sujet während der Belichtungszeit bewegt«, sagte Alice. »Es sind genauso wenig Elfen und Geister wie du und ich. Aber wir können den Fotografen persönlich fragen. Er wird euch gewiss eine befriedigendere Antwort geben können – vielleicht wird er es uns sogar vorführen.«
»Du scheinst gut darüber Bescheid zu wissen«, grunzte Mr Talbot in Richtung seiner Tochter, während er in seiner Westentasche nach seinem goldenen Zahnstocher kramte.
»Ich habe mich in das Thema eingelesen.«
»Tja, vielleicht hättest du die Güte, noch mehr zu lesen. Ich möchte, dass du mir die Funktionsweise des fotografischen Prozesses vollständig erläuterst, bevor dieser Fotograf hier eintrifft. Schließlich möchte ich nicht töricht wirken. Vielleicht würdest du dich auch noch dazu herablassen, mir ein paar Unterrichtsstunden zu geben.«
»Selbstverständlich, Vater«, murmelte Alice, die wusste, dass ihr Vater schon bald wieder das Interesse an dem Projekt verlöre. (Allerdings natürlich nicht, bevor der Fotograf angekommen war und es sich bei ihnen gemütlich gemacht hatte.) Dann würde ihnen der Mann auf unbestimmte Zeit zur Last fallen, dachte sie gereizt. Ja, es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis sie die beiden Keilschriftübersetzer losgeworden war, die die meiste Zeit damit zugebracht hatten, sich über die Inschriften auf Mr Talbots sumerischen Schreibtafeln zu streiten. Und arbeitete nicht Mr Bellows immer noch oben im Dachgeschoss? Im Laufe der Jahre waren derart viele Experten zu Besuch gewesen, dass es unmöglich war sich zu erinnern, um wen es sich im Einzelnen gehandelt hatte und weshalb sie hergekommen waren. Manche waren wochenlang geblieben, manche monatelang. Andere, stellte sie sich vor, lebten immer noch allein und vergessen in den oberen Stockwerken des Hauses und wanderten auf der Suche nach ihrem früheren Ich durch die mit der Sammlung zum Bersten voll gestopften Korridore. Und was das betraf, was Lilian zugestoßen war – hatte ihr Vater denn nichts aus dieser Erfahrung gelernt?
»Brauchen wir wirklich einen Fotografen?«, sagte sie. »Es sind doch gewiss schon genug Leute hier?« Alice betrachtete ihre vier Großtanten und ihre Großmutter, deren unheilvoll ausgedörrte Gesichter um den Esstisch aufgereiht waren.
Tante Lambert nickte zustimmend. »In der Tat. Das ist wieder so eines deiner Projekte, Edwin. Zeit- und Geldverschwendung, genau wie all die anderen.«
»Und weshalb Alice daran beteiligen?«, fragte Tante Statham. »Sie hat genug zu tun.«
»Meine Damen, bitte«, flüsterte Mrs Talbot die Ältere.
»Komm schon, Edwin, mein Lieber«, sagte Tante Pendleton sanft. »Du weißt doch, dass Alice nur über sehr wenig Freizeit verfügt, wenn sie mit dem Katalogisieren und Forschen und Ordnen fertig ist und mit weiß Gott, was sie sonst noch so in deinem Auftrag treibt …«
»Es macht mir nichts aus, Tante. Wirklich«, sagte Alice rasch, da sie befürchtete, Tante Pendleton werde gleich die Vorzüge weiblichen Zeitvertreibs wie Gobelinstickerei oder Besuche bei den Armen preisen. »Ich habe bereits ein wenig mit Vaters Kamera herumexperimentiert. Die Ergebnisse sind gar nicht so übel.«
»O ja«, sagte Tante Rushton-Bell. »Du hast ein paar schöne Bilder gemacht, Liebes. Du bist selbst eine recht gute Fotografin. Edwin, Alice hat recht. Vielleicht benötigen wir diesen Fotografenmenschen gar nicht. Alice könnte die Sammlung selbst fotografieren, wenn du das möchtest?«
Es war schon viele Jahre her, dass Mr Talbot das letzte Mal auf die Meinung einer weiblichen Verwandten gehört hatte, und die Worte seiner Tanten flatterten an ihm vorüber wie Motten in der Dunkelheit. Stattdessen hörte er lediglich, dass sich Alice auf praktische Weise mit einem seiner Gegenstände vertraut gemacht hatte.
»Liebes, deine Treue gegenüber der Sammlung und des sie untermauernden Wissens ist löblich. Weißt du, dass ich dich im Grunde als meinen Kurator betrachte? Ach, welche Berufung! Ich sage dir, Alice, deine Jugend mag vorbei sein, aber oh, die Verzückungen
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