Handbuch für anständige Mädchen
Pfirsichbaumes, die Pflege der Orchideen, die Beaufsichtigung der Reinigung der Sammlung. Jetzt erfüllte Alice diese Aufgaben allein und ohne Hilfe, und wie sich herausstellte, machte sie sich nichts daraus. Die Tanten mochten Schwestern sein, überlegte sie, doch keine von ihnen konnte wissen, wie es war, eine Schwester zu haben, die alles mit ihr geteilt hatte – jeden Augenblick des Lebens, jede Freude, jede Enttäuschung, jedes Unglück. Es hatte so gewirkt, als glichen sich sogar ihre Gedanken, als seien ihre Gefühle ständig aufeinander abgestimmt, ohne dass sie dazu vieler Worte bedurften. Doch jetzt war Lilian fort. Sie hatte ihre Entscheidungen getroffen und würde mit den Konsequenzen leben müssen, genauso wie sie, Alice, es musste.
»Nun denn, mein Liebes, wo sollen wir diesen Mr Blake unterbringen, wenn er eintrifft?«, fragte Tante Lambert munter und tätschelte Alices Hand.
»Ich frage mich, ob er Whist spielt«, sagte Tante Pendleton.
»Was ist mit Lilians Zimmer?«, sagte Alice. »Niemand ist darin gewesen, seit sie fort ist. Er könnte dort wohnen.«
»Aber was, wenn sie zurückkommt?«, sagte Mrs Talbot die Ältere.
»Sie kommt nicht zurück«, sagte Tante Lambert gereizt. »Das weißt du doch.«
Unter den Eisengittern im Boden erklang ein dumpfes Pochen, wie das Klopfen eines gewaltigen Herzens, das tief im Innern des Gebäudes vergraben war. Die Tanten starrten einander mit weit aufgerissenen Augen in dem blättrigen Lampenschein an.
»Es ist bloß die Heizung.« Alice richtete ihre Feststellung an niemanden im Besonderen, während sie das Porträt ihrer Schwester zusammenrollte. »Ich sollte diese Rohre wirklich bald entlüften.«
3
Die Kutsche setzte Mr Blake am Tor ab, das selbstverständlich zugeschweißt war. Nachdem Mr Blake dieser überraschenden Tatsache gewahr wurde, ließ er sein Gepäck stehen (abgesehen von seiner kostbaren Kamera in ihrer Holzschachtel), wo der Kutscher es abgestellt hatte, und wanderte die Mauer auf der Suche nach einem Eingang entlang. Schließlich fand er den Weg durch die Stallungen an der Rückseite des Hauses. Er ging um das Gebäude zur Vorderseite und läutete.
Nach einer geraumen Wartezeit wurde er von einem Diener begrüßt, der von so fortgeschrittenem Alter war, dass er kaum in der Lage schien, die Tür aufzuziehen. Einen Augenblick lang wirkte es so, als habe der Mann gar nicht auf Mr Blakes Klopfen reagiert, sondern als sei er einfach vorbeigekommen und habe spontan beschlossen, einen Blick nach draußen zu werfen.
»Guten Morgen«, sagte Mr Blake. »Ich gehe davon aus, dass ich erwartet werde?«
Der Mann murmelte etwas vor sich hin, das beunruhigend nach einem Fluch klang, und trat ins Haus zurück, wobei er die Tür wieder zustieß. Mr Blake wartete und rieb sich die Hände, um sie warm zu halten. Er atmete tief ein, füllte seine Lungen mit der eisigen Luft und blies eine Atemwolke aus.
Trotz dieses ungünstigen Beginns seines neuen Auftrags war Mr Blake sehr erleichtert, fort von London mit seinen überfüllten und dreckigen Straßen und seiner feuchten und fauligen Luft zu sein. Er war sogar noch erleichterter, fort von St. Thomas zu sein, auch wenn er zugeben musste, dass es auf mehr als eine Art unvergesslich gewesen war, für Dr. Cattermole zu arbeiten. Er hatte seine fotografischen Fähigkeiten weiterentwickeln können, während er dank seiner medizinischen Ausbildung, so weit sie denn reichte, immer genau gewusst hatte, wovon der Doktor gerade sprach. Gemeinsam hatten sie Hunderte Fotografien gemacht – die Stümpfe Amputierter, Organe, die in Scheiben geschnitten und säuberlich für die Kamera ausgebreitet waren, eiternde Geschwüre, durchgebrochene Blinddärme und von der Syphilis verunstaltete Gesichter – alle waren durch Dr. Cattermoles Linse einer genauen Prüfung unterzogen worden.
»Es geht um das Detail«, hatte Dr. Cattermole gesagt, als er über einem ausgeweideten Leichnam stand und sich eifrig die Hände rieb. »Was wir hier anfertigen, ist ein visuelles Verzeichnis von Gebrechen und Krankheiten. Ein Verzeichnis, das uns die Balance zwischen Gesundheit und Krankheit darstellen lässt – der Weg zurück zur Genesung, der lähmende Schreck der Stagnation oder der Weg hinab in die Nekrose. Alles gleichermaßen faszinierende Reisen.« Mr Blake hatte genickt, obgleich ihm der wachsende Eifer des Doktors bei seiner Suche nach den grausigsten Krankheitsbildern Sorgen bereitet hatte.
Nun, da Mr Blake vor dem
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