Handbuch für anständige Mädchen
des Geistes, die damit einhergehen, wenn man sich sein Leben lang hingebungsvoll um die schönsten Beispiele menschlichen Könnens und Einfallsreichtums kümmert. Frauen, die übrig geblieben sind, bieten sich selten derartige Gelegenheiten.«
Alice spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.
Mr Talbot tupfte sich das Auge mit einer Serviette. »Sorge bloß dafür, dass der Kerl nichts zerbricht. Mein guter Freund Cattermole empfiehlt ihn, aber man kann nie vorsichtig genug sein.« Er starrte finster in die bleichen Antlitze seiner Tanten, blinzelte, einen Moment verunsichert angesichts dieser düsteren Richterbank, und wandte sich wieder Alice zu. »Ich kann mich doch wohl mit Sicherheit darauf verlassen, dass du deine Pflicht erfüllst?« Er schien keine Antwort zu erwarten, sondern richtete den Blick begierig auf seine neueste Errungenschaft, eine lebensgroße galvanisierte Statue, die den Sieg der Wahrheit über das Vorurteil darstellte. Die Wahrheit war nackt, abgesehen von einem strategisch platzierten Tuch, das ihr so gut wie von den Hüften gerutscht zu sein schien, als sie erschreckt die Hände hob. Sie wirkte, als sei sie soeben einem heißen Bad entstiegen, und in ihrem Gesicht spiegelten sich Überraschung und Abscheu wider, weil sie auf die aalglatten Windungen der Schlange Vorurteil getreten war, die jemand nachlässig auf dem Boden zurückgelassen hatte.
»Und was, wenn ich fragen darf, wissen wir von diesem Fotografen?«, beharrte Tante Lambert.
»Der Kerl hat einen Universitätsabschluss in … irgendetwas. Medizin, glaube ich. Hat eine Weile mit Cattermole im St. Thomas gearbeitet und krankheitsbefallene Körperteile, Tumore und dergleichen fotografiert.«
»Und sein Name, bitteschön?«
»Blake.« Mr Talbot stemmte sich aus seinem Stuhl und ließ bewundernd eine Hand über den galvanisierten Schenkel der Wahrheit gleiten. Er warf einen verstohlenen Blick auf seine Fingerspitzen, als suche er nach Staub, wirkte jedoch zufrieden ob ihrer Sauberkeit.
»Und wann kommt er, dieser Mr Blake?«, fragte Alice.
»Das ist ohne Belang für dich«, fuhr Mr Talbot sie an. »Dich geht nur die Sammlung etwas an, nicht die Spezialisten, die ich anstelle.« Er starrte seine Tochter eingehend an, als wolle er feststellen, ob sie sich im Geringsten verändert habe, seitdem sein Blick das letzte Mal auf ihr geruht hatte. Er betrachtete ihre gewaltigen Ohren, die dichten Augenbrauen und den tiefen Haaransatz. Was suchten junge Männer heutzutage bei einer Frau?, fragte er sich, während seine Hand einen Moment auf dem polierten Hinterteil der Wahrheit ruhte. War es ein schlanker Hals? Seelenvolle Augen? Anmutige Hände? In seiner eigenen Jugend waren es Schultern gewesen – weiche, weiße, abfallende Schultern. Er betrachtete kurz die entsprechenden Körperteile seiner Tochter. Ihre Schultern waren breit. Ihr Hals nicht weiter bemerkenswert. Ihre Augen zu neugierig (ihr Blick fast feindselig, wie er mit einiger Besorgnis feststellte). Was ihre Hände betraf – es waren riesige, breite Hände, Hände, die seinen eigenen nicht unähnlich waren, abgesehen von dem Umstand, dass am Rücken seiner Hände drahtige, schwarze Haare sprossen und ihre Hände merkwürdigerweise braune Flecken aufzuweisen schienen. Nein, entschied er zu seiner Erleichterung, Alice war genauso hässlich wie eh und je. Lilian war die Schöne der beiden gewesen. »Nicht dass du ihm ins Auge fallen würdest«, murmelte er vor sich hin, sprach jedoch so laut, dass es der ganze Tisch hören konnte. »In der Hinsicht muss ich mir keine Sorgen machen.«
Die Tanten sahen einander in stummer Bestürzung an.
»Aber ich muss wissen, wann er kommt«, beharrte Alice, die dem kritischen Blick ihres Vaters nicht auswich. »Es muss für seine Unterbringung gesorgt werden …«
»Meine liebe Alice«, unterbrach Tante Lambert sie. »Haben wir denn kein Dienstmädchen, das sich um Mr Blakes Unterbringung kümmern kann?«
»Ich weiß nicht recht. Vater hat Einsparungen gemacht …«
»Was, schon wieder ? Edwin, du hast doch gewiss nicht alle Dienstmädchen entlassen?« Tante Lambert hob die Hände an ihren Hals. Unter den Tanten erhob sich ängstliches Gemurmel. Wer würde ihre Bettdecken zurückschlagen und ihnen die Nachtwäsche herauslegen? Wer würde ihnen am Nachmittag den Tee servieren und das Feuer im Salon schüren? Würden sie sich etwa dabei abwechseln müssen, den Kaminrost zu schwärzen? Es war wirklich zu viel …
»Montag in einer
Weitere Kostenlose Bücher