Hannah, Mari
eigentlich irgendwann mal leid, immer Recht zu haben?«
»Oh, das ist dir aufgefallen!« Daniels grinste zurück. »Ich sage ja nur, Chef, dass, wenn alle drei Opfer Mitglieder der Jury gewesen wären, die neun anderen ebenfalls ausfindig gemacht und unter Schutz gestellt werden müssten.«
Die Tür ging wieder auf. Dieses Mal war es Robson, bis auf die Haut durchnässt und außer Atem. Während alle ihn anschauten, zog er seinen tropfenden Mantel aus und übergab Bright das umfangreiche Prozessprotokoll. Alle im Raum hielten den Atem an, als er es aufschlug, doch sein hoffnungsvoller Gesichtsausdruck verwandelte sich rasch in ein Stirnrunzeln.
Enttäuscht kehrte Daniels in ihr Büro zurück, hatte keine Kraft mehr, ihren Chef zum hundertsten Mal heute zu unterstützen. Es wurde langsam Zeit, dass er ohne sie klarkam. Kurz darauf gesellte sich Gormley zu ihr, stellte eine Dose auf ihren Schreibtisch, warf ihr eine Tüte Chips zu und setzte sich in den Stuhl ihr gegenüber.
»Tu einfach, als wär’s Starbucks. Fettarmer Dolce Latte mit Zimt und einem Verry-Berry-Scone.« Er schnupperte an seiner Coca-Cola-Dose. »Hmmm … riecht das gut.«
Daniels lachte laut auf, hatte plötzlich Hunger. Sie riss die Chipstüte auf und stopfte sich eine Handvoll in den Mund. Sie wusste nicht mehr, wann sie zum letzten Mal irgendetwas gegessen hatte.
»Glaubst du immer noch, dass er es ist?«, fragte sie mit vollem Mund.
»Aber sicher.«
»Genau, dann will ich, dass du jedes Dokument ausfindig machst, das je über ihn zusammengestellt wurde. Schul- und Jugendamtsberichte; Gefängnis, Polizei und Ärzte.«
»Das kann dauern …«
»Just do it! Ich hab ein gutes Gefühl, Hank.«
Sie stießen mit ihren Colas an, plötzlich guter Laune. »Frohes Neues!«, sagten sie beide.
91
Es dauerte länger, als sie erwartet hatte, die Dokumentation zusammenzustellen: einige Tage und ein Rekord an Arbeitsstunden, um einen Berg von Unterlagen und Berichten zusammenzutragen, das umfassendste Profil eines Verbrechers, das die Mordkommission je gesehen hatte. Daniels instruierte die Mitarbeiter, mit den aktuellsten Sachen zu beginnen und sich dann langsam in die Vergangenheit zurückzuarbeiten, aber schon bald wurden sie es leid, durch Forsters kriminelles Leben zu waten, und fingen an, ihre Strategie in Frage zu stellen. Immer wieder wurde gemurmelter Widerspruch laut: Hoffe, sie hat Recht … könnte sein, wir verschwenden unsere Zeit … alles auf eine Karte zu setzen, hat beim letzten Mal auch nicht funktioniert.
Sie las jetzt ebenfalls seit einigen Stunden und wusste genau, wie sie sich fühlten. Die Buchstaben vor ihren Augen begannen zu tanzen, die Wörter verschmolzen zu fetten, schwarzen Flecken, also setzte sie sich gerade hin, machte eine Pause und reckte die Arme über dem Kopf. Vor dem Fenster bot ein hellblauer, wolkenloser Himmel den Augen kurze Erholung von den vier Wänden ihres Büros. Zwei Möwen erregten ihre Aufmerksamkeit. Ein erfreulicher Anblick, wie sie hoch über den Dächern dahinsegelten, sich vom Wind tragen ließen, der sie zur Küste wehte.
Daniels schloss die Augen, überwältigt von einer Welle des Bedauerns. Nie wieder würde sie mit Jo an einem Strand entlanggehen, nie wieder in diese hellen, blauen Augen blicken oder die gegenseitige Begeisterung über einen perfekten Partner spüren. Es war an der Zeit zu akzeptieren, dass sie nie wieder zusammen sein würden.
Jo würde bezweifeln, dass sie es je gewesen waren.
Sie suchte der erstickenden Leere, die sie in den letzten paar Tagen empfunden hatte, zu entkommen, und wischte sich mit dem Handrücken über die Wange. Auf der anderen Seite ihres angestoßenen Tisches saß Gormley, tief in seine Arbeit vergraben, und bemerkte nichts von ihrer Traurigkeit – zumindest sah es so aus. Ohne den Kopf zu heben, streckte er den Arm aus und reichte ihr ein Taschentuch.
»Tu’s nicht!«, sagte er. »Du steckst mich sonst noch an.«
Daniels rang sich ein Grinsen ab. Dann zuckte sie zusammen, als ihr Telefon klingelte.
Sie hob ab. »DCI Daniels.«
»Ich bin’s … Kannst du vorbeikommen?«
»Jetzt gleich?«
»Ja, jetzt!«
Daniels legte auf. »Ich muss weg«, sagte sie.
Eine halbe Stunde später hatte sich die freudige Aufregung über die Einladung verflüchtigt. Der Anruf, der sie vollkommen überrascht hatte, entpuppte sich als rein geschäftlich. Jo hatte ein paar Dinge abgeglichen und ein paar alte Akten zu Jonathan Foster gefunden, von denen sie meinte,
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